Julia Extra Band 0193
mindern können, aber das Wissen, nur eine aus einer langen Reihe zu sein, hatte ihr zumindest die Augen geöffnet.
Ihr Stolz meldete sich. Er hatte sie wie einen Niemand behandelt. Also beschloss sie, jemand zu werden. Vielleicht nicht nach seiner Vorstellung, aber nach ihrer. Sie nahm das Medizinstudium wieder auf.
Und nun war sie also Ärztin, trotzdem hatte sich nichts geändert. Er nahm sich noch immer, was er wollte, und sie war dumm genug, es noch immer zuzulassen. Falls sie irgendeine Lektion aus der Vergangenheit gelernt hatte, würde sie die Beine in die Hand nehmen und so weit wie möglich von Drayton Carlisle fortrennen.
5. KAPITEL
Das Rennen erwies sich allerdings als schwierig, wenn es sich dabei um unbekanntes, mit Gebüsch und Bäumen zugewachsenes Terrain handelte und sie dazu noch keine Ahnung hatte, in welche Richtung sie lief. Sie hatte gehofft, wieder den Rasen zu erreichen, doch plötzlich fand sie sich vor einem hölzernen Zaun wieder. Sie spielte mit dem Gedanken, den Rock hochzuheben und über den Zaun zu klettern, doch in diesem Moment hörte sie die Schritte, die ihr gefolgt waren.
„Du scheinst dich verlaufen zu haben“, konstatierte Dray kühl diese unübersehbare Tatsache. Nichts mehr von dem leidenschaftlich erhitzten Mann war zu bemerken. „Das Haus liegt in diese Richtung.“ Er deutete auf den ausgetretenen Pfad, den er benutzt hatte, und lud sie mit einer Handbewegung ein, vorzugehen.
Sie hatte keine andere Wahl. Sie erreichten die weite Rasenfläche und gingen schweigend weiter auf das Haus zu. Doch bevor sie die Terrasse erreichten, hielt Dray sie zurück.
„Was vorhin unten am Fluss passiert ist …“
„Du hast gelogen“, fiel sie ihm ins Wort.
„Gelogen?“
„Pen hat so etwas nie gesagt. Das hast du nur erfunden.“ Cass wartete auf eine Erwiderung, doch er sah sie nur nachdenklich an. „Ach, was soll’s“, fauchte sie schließlich verärgert. „Ob du es zugibst oder nicht, ich weiß es einfach.“
„Ich hätte nichts davon erwähnen sollen, vor allem nicht heute“, war seine einzige Antwort.
Doch für Cass war das wie ein Schuldbekenntnis, und das reichte ihr. Sie wollte nicht weiter mit ihm reden.
Doch Dray hatte noch etwas zu sagen. „Ich hätte dich nicht küssen dürfen.“
„Vergiss es. Ich hab’s schon vergessen.“
„So einfach ist das also für dich?“ Er verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln.
Nein, das war es nicht. Trotzdem setzte sie eine hochmütige Miene auf. „Um ehrlich zu sein, ja.“
„Nun …“ Er hielt inne. „Mir ist nur wichtig, dass du mit Tom sprichst.“
Damit hatte er seine Prioritäten deutlich gemacht. Eine Erwiderung von ihr erwartete er wohl nicht.
In diesem Moment trat Tom auf die Terrasse. Er hatte auf sie gewartet.
„Ich konnte nicht dort hinunterkommen“, begann er ohne Einleitung. „Verstehst du das?“
Sie nickte. „Ja, ich glaube schon.“
„Sie hat es immer benutzt. Ich habe es herausgefunden“ Er sprach abgehackt. „Der Boden. Es gibt dort keine Bank. Und der Stuhl. Hat sie es dir erzählt?“
Cass starrte ihn sprachlos an. War es etwa das, worüber er mit ihr reden wollte? Abrupt drehte sie sich um und wollte davongehen, doch wieder hielt Dray sie fest.
Wütend funkelte sie ihn an. „Sag mal, kapierst du es nicht? Ich bin nicht hier, um mir unsinnige Fragen anzuhören. Und soweit ich weiß, ist dies ein freies Land, und ich kann gehen, wann immer wohin immer ich will. Also lass mich jetzt gefälligst los!“
„So beruhige dich doch.“ Dray sah zu dem aufgelösten Tom hinüber. „Ich hatte keine Ahnung, dass er dich so etwas fragen würde.“
„Natürlich nicht!“, fauchte sie. „Nur um es ein für alle Mal klarzustellen: Ich weiß nichts über Pens angebliche Affäre. Weder über den Mann noch über seine sexuellen Fähigkeiten. Nichts! Und ich will es auch nicht wissen!“
„Ist ja schon gut. Ich glaube dir“, versuchte er sie zu beruhigen.
„Nein, das tust du nicht! Aber das ist mir auch egal, denn ich weiß, dass es die Wahrheit ist. Ich habe meine Schwester in den letzten drei Jahren vielleicht ein halbes Dutzend Mal getroffen, und wir haben keine Schlafzimmergeheimnisse ausgetauscht. Ist das endlich klar?“
Er sagte nichts, sah nur mit versteinerter Miene zu den offen stehenden großen Flügeltüren hinüber. Die Köpfe der anwesenden Trauergäste hatten sich ob der lauten Stimmen draußen zum Garten gewandt.
Cass wurde blass. „Um Himmels willen“, sagte
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