Julia Extra Band 0193
Anschuldigung. Sie war damals völlig auf ihr Studium konzentriert gewesen. Vielleicht hätte sie sonst bemerkt, in was Pen da hineinschlitterte …
„Es tut mir leid.“ Ihr Schweigen zeigte Tom, dass er sie verletzt hatte. Und er hatte Angst, dass sie einfach aufstehen und gehen würde. „Ich hätte das nicht sagen dürfen.“
„Schon in Ordnung.“ Menschen sagten in ihrer Trauer viele Dinge, die sie nicht so meinten.
„Ich muss es wissen“, stieß er hervor. „Was ist mit ihm passiert? Mit Pens erstem Baby?“
Cass riss sich zusammen, um nicht selbst von den Erinnerungen überwältigt zu werden. „Er starb kurz nach der Geburt.“
Es war lange her, dass sie darüber geredet hatte. Pen und sie hatten nie darüber gesprochen. Alexander Joseph, zwei Monate zu früh zur Welt gekommen, hatte kaum die ersten Atemzüge überlebt. Und trotz ihrer ersten Verzweiflung über die ungewollte Schwangerschaft war Pen über den Tod des Babys am Boden zerstört gewesen.
„Ich hatte angenommen, es wäre zur Adoption freigegeben worden.“
„So war es auch anfänglich besprochen worden.“
„So etwas ist doch nicht so schwierig, oder? Ich meine, viele kinderlose Paare sind auf der Suche nach einem Baby, das sie adoptieren können.“
„Ja, ich denke schon.“ Sie konnte sich nie vorstellen, ein Kind wegzugeben. Ein Kind, das man neun Monate unter dem Herzen getragen, das man zur Welt gebracht, im Arm gehalten hatte, wie ein Paket, das an der falschen Adresse abgeliefert worden war, einfach wieder zurückzugeben? Sie würde so etwas umbringen.
„Das ist dann wohl für alle die beste Lösung.“ Tom war offensichtlich mit seinen Gedanken ganz woanders. „Meinst du nicht auch? Aber die Entscheidung sollte dir überlassen sein“, fuhr er hektisch fort. „Ich habe ja wohl kaum das Recht, so etwas zu entscheiden, und noch jemanden gibt es ja wohl nicht. Wie man mir gesagt hat, ist es stabil genug für einen Transport. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du es heute schon mitnehmen würdest.“
Cass schaute ihren Schwager völlig verständnislos an. Irgendwo hatte entweder er oder sie den Faden verloren. „Wovon redest du eigentlich, Tom?“
„Von dem Baby.“
„Von welchem Baby, Tom?“
Diesmal war es an Tom, verständnislos dreinzuschauen. „Von Pens Baby natürlich.“
Sie musste sich verhört haben, etwas anderes war gar nicht möglich. „Tom, ich glaube nicht, dass ich dich richtig verstanden habe. Du willst, dass ich das Baby …“
„Aber ja“, unterbrach er sie. „Ich habe sehr genau darüber nachgedacht. Eigentlich habe ich in den letzten Tagen über nichts anderes nachgedacht. Ich weiß, es trägt keine Schuld. Es ist ja noch ein Baby. Aber ich kann mich unmöglich darum kümmern.“
Cass unterdrückte das Bedürfnis, sein abwertendes „darum“ zu korrigieren, als ob dieses kleine Mädchen ein Ding sei. Tom war aufgewühlt und durcheinander. Aber wie lange sollte dieser Zustand anhalten? Wochen? Monate? Und wer kümmerte sich in dieser Zeit um das Kind? Die nächste Familie? Das waren Dray und sie. Dray würde sich sicherlich nicht darum reißen. Und sie auch nicht. Sie hatte dem Kind ja nichts zu bieten.
Sie nahm den sachlichen Ton an, den sie im Krankenhaus bei ihren Patienten benutzte. „Tom, hör mir zu. Im Moment bist du in keiner Verfassung, um eine solche Entscheidung zu fällen. Du hast gerade deine Frau verloren. Du musst dir Zeit lassen. Mit der Zeit wirst du eine Beziehung zu deiner Tochter herstellen, die …“
„Aber dieses Baby ist nicht von mir!“, stieß Tom mit zusammenpressten Zähnen und leichenblassem Gesicht hervor.
Cass erstarrte. Eine unerwartete Neuigkeit, aber nicht so undenkbar, dass sie schockiert gewesen wäre. Allerdings fiel ihr nichts ein, das sie hätte sagen können.
Tom zog prompt die falschen Schüsse aus ihrem Schweigen. „Du hast es gewusst, stimmt’s? Ich habe zu Dray gesagt, dass du es bestimmt weißt.“
Cass schüttelte wieder den Kopf. Sie hatte doch noch nicht einmal gewusst, dass Pen schwanger gewesen war. Doch Tom sah nichts davon, er starrte in sein Whiskyglas.
„War es der gleiche Kerl, mit dem sie sich letztes Jahr getroffen hat?“, verlangte er zu wissen. „Oder noch ein anderer?“
„Tom, ich weiß es wirklich nicht“, versuchte sie ihm klarzumachen. „Pen und ich haben uns in den letzten Jahren kaum gesehen …“
„Ach ja, das hatte ich ja vergessen.“ Er lachte bitter auf. „All diese Nächte, die sie nicht zu Hause
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