JULIA EXTRA Band 0281
Schwägerin Hatima ein. „Mein Bruder wird ihr diesen rebellischen Geist schnell austreiben.“
Hatima und Camilla waren Tamsins negaffa. Als Verwandte sollten sie nach marokkanischer Tradition die Braut begleiten und versuchen, ihr die Angst vor der bevorstehenden Hochzeit zu nehmen.
Tolle Begleitung!, dachte Tamsin ketzerisch.
Sie senkte den Blick auf ihre mit Henna verzierten Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt. Hatima hatte recht. Ihr zukünftiger Ehemann würde sie schlagen. Ob vor oder nach der Entjungferung war eigentlich egal. Vielleicht erwuchs daraus ja auch ein tägliches Ritual?
Erneut starrte Tamsin aus dem Seitenfenster. Inzwischen hatten sie die Stadtmauer passiert und hinter sich gelassen. Hätte sie sich bloß nicht für ihre einzige große Liebe aufgespart! Warum war sie nicht damals mit dem charmanten Typen ins Bett gegangen, der sie auf der Schulabschlussfeier geküsst hatte? Gut, er war betrunken gewesen, aber immer noch besser als …
„Na, was ist? Diesmal keine patzige Antwort parat?“, höhnte Camilla. „Dich verlässt wohl jetzt schon der Mut.“
Tamsin blinzelte heftig, um ihre Tränen zurückzuhalten. Doch ehe sie vor Camilla weinte, wollte sie lieber sterben! Mit versteinertem Gesicht schaute sie zu den Fischerbooten hinüber, die auf den Wellen des Ozeans schwankten, und den Möwen, die frei wie der Wind übers Wasser flogen. Enttäuscht von ihrem hartnäckigen Schweigen, begannen die beiden Frauen damit, den neuesten Klatsch aus dem nahegelegenen Laayoune auszutauschen.
„Stell dir vor, die Frau des wali ist gekidnappt worden … am helllichten Tag!“
Camilla seufzte dramatisch. „Was für eine Welt! Wo soll das alles noch enden? Was ist mit ihr passiert?“
Je weiter sie nach Norden kamen, desto schlechter wurde die Wüstenstraße entlang des Atlantiks. Bei jedem Schlagloch holperte der Wagen, und die Frauen wurden durcheinandergeschüttelt. Tamsin schaute nach vorn zum Fahrer. Obwohl der Verkehr immer spärlicher wurde, schien der Fahrer nervös zu sein.
„Der wali musste alles verkaufen, was er hatte, um das geforderte Lösegeld aufbringen zu können. Natürlich ist die Familie ruiniert, aber wenigstens ist seine Frau wieder bei ihm.“
„Und ihr ist nichts geschehen?“
„Nein, den Entführern ging es offenbar nur um das Geld. Es war …“
Hatima stieß einen spitzen Schrei aus, als der Fahrer abrupt nach rechts lenkte und heftig in die Bremsen trat. Die schwere Limousine drehte sich einmal um sich selbst, schleuderte über die Straße und kam in einer Sandwehe zum Stehen.
Der Fahrer öffnete die Tür, sprang aus dem Wagen und rannte, ohne sich umzuschauen, in Richtung Tarfaya davon.
„Wo wollen Sie denn hin?“, schrie Camilla ihm hinterher. Aufgebracht langte sie nach dem Türgriff, doch ehe sie ihn betätigen konnte, wurde die Wagentür von außen aufgerissen. Drei Männer in Camouflage-Kleidung und mit schwarzen Gesichtsmasken getarnt, steckten ihre Köpfe bedrohlich weit in den hinteren Fahrgastraum. Sie schrien Befehle in einer Sprache, die Tamsin nicht verstand.
Als auch auf ihrer Seite die Tür von außen aufgerissen wurde, wirbelte sie erschrocken herum. Unter der schwarzen Maske konnte sie nur den grausamen Mund und die kalten grauen Augen des Mannes ausmachen.
„Tamsin Winter“, sagte er auf Englisch. „Endlich gehörst du mir.“
Er weiß, wie ich heiße! Was für ein seltsamer Bandit … schoss es ihr durch den Kopf. Wie durch einen Nebel hörte sie die anderen beiden Frauen kreischen. Woher wusste der Ganove ihren Namen?
Waren ihre Gebete etwa erhört worden, und er kam, um sie zu retten?
Nein!, gab sie sich gleich selbst die Antwort. Niemand konnte sie vor ihrem Schicksal retten. Denn wenn die Hochzeit mit Aziz platzte, musste ihre Schwester dafür bezahlen.
Was hatte Hatima eben noch erzählt? Die Banditen wollten nur Geld?
Nervös befeuchtete Tamsin ihre Lippen mit der Zungenspitze, setzte sich aufrecht hin und bemühte sich, dem bohrenden Blick ihres Angreifers standzuhalten.
„Ich bin die Braut von Aziz ibn Mohamed al-Maghrib“, erklärte sie kühl. „Krümmen Sie mir auch nur ein Haar, tötet er Sie. Bringen Sie mich sicher zu ihm, wird er Sie reich belohnen.“
„Ah …“ Er lächelte sardonisch und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne. „Und wie will er mich belohnen?“
Er hatte einen seltsamen Akzent. Amerikanisch gefärbtes Englisch, versehen mit einer exotischen Note … einem rollenden, spanischen
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