JULIA EXTRA Band 0281
Besonders, weil sie die Schuld am Unglück ihrer kleinen Schwester trug.
Nicole und sie hatten einander nie besonders nahegestanden, was hauptsächlich daran lag, dass Tamsin auf ein Internat nach Amerika abgeschoben wurde, kurz nachdem ihre kleine Schwester das Licht der Welt erblickt hatte. Als ihre Mutter starb, waren beide Töchter noch sehr jung, und ihr Vater folgte seiner Frau wenige Jahre später.
Aber Tamsin hätte ihre kleine Schwester niemals Sheldons Obhut überlassen dürfen. Denn während sie in London zum ersten Mal im Leben das herrliche Gefühl von Freiheit auskostete, verschleuderte ihr Halbbruder ihrer beider Treuhandvermögen. Dann feuerte er auch noch Nicoles alte Nanny und überließ das arme Kind sich selbst.
Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte Nicole beschützen müssen …
„Wir sind fast da.“ Ihr Entführer durchquerte die Kabine und schaute aus einem der Fenster.
„Wo?“
„In meiner Heimat – Andalusien.“
Spanien! Ein wilder Hoffnungsblitz durchzuckte Tamsin. Spanischen Boden unter den Füßen zu haben, bedeutete Zivilisation … Freiheit! Wenn es ihr gelang zu fliehen, konnte sie eine Schnellbootfähre zurück nach Marokko nehmen und noch vor dem Morgengrauen wieder dort sein.
Als ihr Entführer sich abrupt umdrehte, senkte Tamsin rasch den Blick, aus Angst, er könne ihren Plan womöglich an ihrem Gesicht ablesen.
„Sprechen Sie eigentlich Spanisch, Señorita Winter?“
„Nein“, log sie dreist, um ihn in Sicherheit zu wiegen. „Und Sie …?“
„Natürlich.“ Er schenkte ihr ein eisiges Lächeln. „Aber meine Mutter war Amerikanerin. Nach ihrem Tod lebte ich sechs Jahre in Boston. Ich werde also um Ihretwillen weiterhin Englisch sprechen.“
„Dann erklären Sie mir doch bitte mal auf Englisch, warum Sie mich gekidnappt haben.“
„Vermissen Sie etwa bereits Ihren Verlobten?“
„N…nein“, stammelte sie, momentan aus der Fassung gebracht. „Oder, natürlich, ja … ich vermisse ihn. Außerdem geht Sie das nichts an. Ich habe Aziz das Versprechen gegeben, ihn zu heiraten, also muss ich mein Wort halten. Manche Leute können nämlich noch etwas mit dem Begriff Ehre anfangen.“
Wieder blitzte es in seinen Augen auf. „Dann geben Sie also zu, dass Sie ihn nicht lieben?“
„Davon habe ich nichts gesagt.“
„Das brauchen Sie auch nicht. Aziz al-Maghrib ist für seine gnadenlose Grausamkeit allseits bekannt. Sind Sie denn wirklich so habgierig, dass Ihnen das Vermögen seines Onkels als Anreiz für diese Hochzeit ausreicht?“
Tamsin hatte nicht vor, die Motive für die geplante Heirat ausgerechnet mit ihrem Entführer zu diskutieren. „Wenn Sie Aziz’ Ruf so genau kennen und es trotzdem gewagt haben, mich zu entführen, dann sind Sie ein Narr oder einfach lebensmüde. Dafür wird er Sie umbringen.“
Erneut setzte er sich zu ihr aufs Bett. Nahe … viel zu nahe. Tamsin versuchte von ihm fortzurutschen, doch sein schwerer Körper hielt das Laken so fest, dass sie sich nicht rühren konnte. Nie zuvor hatte sie sich einem Mann in ihrer Unterwäsche gezeigt, und damit würde sie heute ganz bestimmt nicht anfangen. Besonders deshalb nicht, weil sie sich der Reaktionen ihres Körpers auf seine beunruhigende Nähe nicht wirklich sicher war.
Sie öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass er sich entfernen solle, doch als sich ihre Blicke trafen, verlor sie den Faden und versank in der dunklen Tiefe seiner wundervollen Augen.
Ihn einfach nur als gut aussehend zu bezeichnen, wurde seiner Wirkung nicht gerecht, stellte Tamsin verwundert fest. Das dunkle Gesicht mit der römischen Nase, den hohen Wangenknochen und der harten Kinnlinie war unbestreitbar attraktiv. Besonders der Kontrast der stahlgrauen Augen zu dem olivfarbenen Teint und dem nachtschwarzen dichten Haar. Wie gern hätte sie es mit ihren Fingern berührt, doch sie wagte es nicht.
Er war so groß, dass er sie sogar im Sitzen um fast einen Kopf überragte. Dazu wirkte er ausgesprochen kräftig und muskulös. Wenn er sie überwältigen wollte, musste er sich nicht einmal anstrengen. Sie hatte keine Chance gegen ihn. Er konnte mit ihr tun, was ihm gerade in den Sinn kam …
Der Gedanke ängstigte und erregte Tamsin zur gleichen Zeit.
Als er die Hand hob, zuckte sie unwillkürlich zurück und sog heftig den Atem ein, doch zu ihrer Überraschung strich er ihr nur über die Wange.
„Darauf habe ich sehr lange gewartet.“ Die Berührung war freundlich und besitzergreifend zugleich, als sei
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