Julia Extra Band 0293
gegeben, damit sie zu ihm zurückkehrte. Aber er bekam nicht einmal die Chance, es ihr zu sagen.
Dass ihr Vater ihn hasste, machte alles nur noch schlimmer. Tom Burns verhöhnte Flynn bei jeder Gelegenheit. Einmal sagte er sogar, Flynn sei nicht gut genug für seine Tochter und was ihm überhaupt einfalle, seine gesellschaftliche Stellung zu missbrauchen, um Caitlin den Kopf zu verdrehen. Zweifellos hatte Tom seine Tochter ermutigt, das Dorf zu verlassen. Zumal er sich danach beharrlich weigerte, ihren Aufenthaltsort preiszugeben, während die MacCormacs erleichtert aufatmeten.
Flynn kam jetzt bei seinem Wagen an und war auf hundertachtzig. Sagte man nicht, die Zeit heilte alle Wunden? Da konnte er nur lachen. Viereinhalb Jahre waren seitdem vergangen, und ihm kam es vor, als hätte ihn Caitlin erst gestern verlassen.
Zwei Tage nach der Beerdigung traf Caitlin zum ersten Mal wieder auf Flynn.
Sorcha wurde von einer Nachbarin beaufsichtigt, sodass Caitlin in Ruhe einkaufen konnte und auch mal etwas Zeit für sich hatte – außerhalb des von Trauer und bedrückenden Erinnerungen belasteten Aufenthalts im Cottage. Doch ihre Einkaufstour dauerte länger als beabsichtigt, nicht nur wegen des Schnees, sondern auch wegen der vielen Beileidsbekundungen der Bekannten, die sie unterwegs traf. Offenbar hatte man sie im Dorf trotz ihres Wegzugs nicht vergessen.
Dann überkam sie urplötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ihr Herz schlug wie wild, und als sie schließlich den Kopf wandte, sah sie Flynn MacCormac auf der anderen Straßenseite stehen. Für einen Augenblick schien sich ihre Welt aus den Angeln zu heben, und dann – für den Bruchteil einer Sekunde – war es mucksmäuschenstill, als hielte alles und jeder den Atem an.
Schließlich entrang sich Caitlins Lippen ein Seufzer, den allerdings nur sie hören konnte. Sofort bemerkte sie eine beunruhigende Veränderung an Flynn – nicht was sein Äußeres betraf, sondern seine Haltung ihr gegenüber. Er wirkte noch verschlossener als sonst, als umgäbe ihn eine Glasglocke, die ihn und seine Gefühle abschirmte.
Er war schon immer zurückhaltend gewesen und hatte seine Gedanken für sich behalten. Aber er sah so gut aus, dass sie sich von ihm angezogen fühlte wie eine Motte vom Licht. Er brauchte nur im selben Raum mit ihr zu sein, und sie geriet in helle Aufregung, wobei sie auch so etwas wie den Reiz des Verbotenen verspürte.
Jetzt brannten Tränen in Caitlins Augen, wobei sich die Trauer über das, was sie und Flynn verloren hatten, mit Wiedersehensfreude mischte. Als er die Straße überquerte, wagte Caitlin kaum, sich zu rühren. Groß und breitschultrig kam er auf sie zu und bewegte sich dabei mit der Anmut eines Raubtiers auf Beutezug, sodass sie den Blick einfach nicht von ihm wenden konnte.
„Ich habe schon gehört, dass du wieder da bist.“ Seine Stimme klang ein wenig rau, als sei auch er von Gefühlen überwältigt.
Caitlins Mund war so trocken, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. „Mein Vater ist gestorben“, stammelte sie, während Flynns Blick aus jadegrünen Augen sie zu durchdringen schien. „Ich bin wegen der Beerdigung hergekommen.“
Er biss die Zähne zusammen, was sein Kinn noch kantiger wirken ließ. Aber es kam keine Beileidsbekundung. Die hatte sie auch nicht erwartet, trotzdem schmerzte es.
„Ich verstehe“, sagte er nur. „Ich frage gar nicht erst, wie es dir ergangen ist, denn du siehst gut aus. Aber vielleicht verrätst du mir, wo du die ganze Zeit gesteckt hast.“
Caitlin fuhr sich mit leicht zitternder Hand durchs Haar. „In London … ich wohne in London bei meiner Tante.“
„Bist du gleich, nachdem du von hier weg warst, dahin gegangen?“
„Ja.“ Unter seinem prüfenden Blick kam sich Caitlin vor wie eine Kriminelle.
„Dann bist du also weder urplötzlich unheilbar krank geworden, noch wurdest du von Außerirdischen entführt und hast auch nicht dein Gedächtnis verloren?“
„Wie bitte?“
„Ich habe mir alles Mögliche ausgemalt, weil du ohne ein Wort der Erklärung verschwunden bist.“
Sie zuckte zurück, als hätte er sie geohrfeigt. „Müssen wir das in aller Öffentlichkeit besprechen? Wenn du darüber reden willst, gern … aber nicht hier.“ Caitlin blickte an Flynn vorbei auf die schneebedeckten Gehwege. Hier und da waren an diesem späten Vormittag trotz der Kälte noch andere Menschen unterwegs, um ihre Einkäufe zu machen.
Plötzlich fühlte sich Caitlin unheimlich verletzlich.
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