Julia Extra Band 0293
weich werden ließen und ihr fast den Boden unter den Füßen wegzogen. Dabei füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass mein Vater gestorben ist. Ich bin nur wegen seiner Beerdigung zurückgekehrt.“
„Ich will mit dir reden, und zwar so schnell wie möglich“, erklärte Flynn jetzt überraschend. „Du hast verdammt recht, dass du mir eine Erklärung schuldest, und ohne die lasse ich dich kein zweites Mal davonlaufen!“, stieß er daraufhin hervor, als bereitete ihm jedes Wort körperliche Schmerzen.
„Bei der Steinformation oben auf dem ‚Maiden’s Hill‘, dem Jungfrauenhügel“, sagte Caitlin schließlich kleinlaut. „Ich warte dort morgen Nachmittag um drei auf dich. Am Vormittag möchte ich gern die Habseligkeiten meines Vaters durchsehen und mir überlegen, wohin ich sie gebe.“
„Morgen um drei dann. Und noch eins, Caitlin!“ Wieder maß er sie mit diesem durchdringenden Blick, als wollte er sie davor warnen, auch nur daran zu denken, die Verabredung nicht einzuhalten.
„Ja?“ Ihr Herz klopfte wie wild.
„Enttäusch mich nicht noch einmal, sonst komme ich dich holen.“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigt hatte und wieder in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch zu diesem Zeitpunkt war sie längst so durchgefroren, dass sie unbedingt etwas Warmes zu trinken brauchte.
Als sie das kleine blau-gelbe Schild entdeckte, das vom Wind über Mrs. O’Callaghans Bäckerei hin- und hergeweht wurde, lenkte sie ihre Schritte dorthin und freute sich auf einen schönen Milchkaffee, der ihr die Kälte und den Schrecken aus den Gliedern vertreiben würde.
2. KAPITEL
Caitlin erschien früher als verabredet bei der Steinformation und hatte sich warm angezogen. Unter dem Dufflecoat trug sie eine dicke Cordhose und einen grob gestrickten Pullover, um sich gegen den gnadenlos pfeifenden Wind zu schützen. Sie stand am Rand der Klippe mit den Menhiren im Rücken. Bis auf einen, der auf dem Boden lag, ragten alle anderen mannshohen, roh behauenen Steinquader gen Himmel und bildeten einen Kreis.
Wie gebannt sah Caitlin auf die offene Irische See hinaus, deren Wellen sich vierzig, fünfzig Meter unterhalb von ihr tosend an der Steilküste brachen. Dabei verspürte sie ein lang vermisstes Hochgefühl. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Blick, und oft – wenn sie sich wieder einmal durch die vollen Londoner Straßen quälen musste – hatte sie sich hierher zurückgewünscht.
Diese Stelle auf dem Maiden’s Hill hatte einfach etwas Magisches, ob man nun die zahlreichen Legenden, die um den Jungfrauenhügel rankten, mit einbezog oder nicht. Für Caitlin gewann dieser Ort noch dadurch, dass sie oft mit Flynn hier gewesen war. Einmal hatten sie sich hier oben sogar geliebt – in einer warmen Sommernacht. Dabei tauchte sie der Vollmond in ein silbriges Licht, als wollte er damit bekunden, dass er mit ihrer Verbindung einverstanden sei.
Bei diesen Gedanken begann es in Caitlins Adern zu pochen, und ein Bedürfnis, so alt wie die Menschheit selbst, erwachte in ihr. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hier zu treffen. Sie verband zu viele Erinnerungen mit Maiden’s Hill – aufwühlende, die Seele zum Schwingen bringende Erinnerungen an die Liebe, bei denen es sich doch nur um Trugbilder eines nicht eingeschlagenen Weges handelte. Und jetzt erwartete Flynn Antworten auf seine Fragen, die sie am Ende dazu nötigen würden, ihm zu sagen, dass sie ein Kind von ihm hatte.
Obwohl sie ihm den Rücken zukehrte, wusste Caitlin, dass er angekommen war, denn sie spürte ein Kribbeln im Nacken. Auf seine Anwesenheit hatte sie schon immer heftig reagiert, als gäbe es zwischen ihnen eine mystische Verbindung. Auch heute schien die Atmosphäre elektrisch geladen, trotzdem musste sie sich jetzt regelrecht vom Anblick der tosenden See mit ihren weißschäumenden Wellenkronen losreißen.
Beim Umdrehen sah sie Flynn im Gegenlicht als große, dunkle Gestalt mit Riesenschritten über die Hügelspitze auf sich zukommen. Der beißende Wind legte noch zu und brachte jetzt Schneeregen mit. Flynns Kleidung wurde an seinen muskulösen Körper gedrückt, und das schwarze Haar glänzte durch die Feuchtigkeit wie Seide.
Caitlin überlief ein Schauer, und das lag nicht nur an der Kälte, die nun doch unter ihre Kleidung zu kriechen begann und ihr das Gefühl gab, als umfasste der Tod sie mit seiner eiskalten
Weitere Kostenlose Bücher