Julia Extra Band 0293
angeboten, und die richtige Kleidung dazu. Einer Tour stand somit nichts mehr im Weg.
Schon sehr früh am Morgen war Claire losgeradelt, und sobald sie den Berg in Angriff genommen hatte, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, obwohl sie wusste, dass Ethans Ferienhaus dort oben stand. Bestimmt würde er so früh noch nicht auf sein, hatte sie sich überlegt.
Dann hatte sie jemand auf der Terrasse gesehen, und war neugierig geworden, ob er es sein könnte.
Und so war eins zum anderen gekommen, was sie jetzt bereute. Obwohl sie nicht wirklich eitel war, hätte sie doch beim ersten Wiedersehen mit Ethan nach zehn Jahren gern vorteilhafter ausgesehen.
Sie war verschwitzt, das Haar war vom Helm platt gedrückt, Radhose und Jacke passten zwar ganz gut, lagen aber für ihren Geschmack viel zu eng an.
Hinter sich hörte sie Schritte, und ihr Herz begann wie rasend zu pochen.
„Ich muss zugeben, ich habe es noch nie bis hier oben geschafft, ohne mehrmals stehen zu bleiben“, hörte sie Ethan sagen.
Lächelnd drehte sie sich zu ihm um. Es war einer seiner liebenswertesten Eigenschaften, dass er Anerkennung zollte, wenn sie angebracht war. Es machte ihm nichts aus, zuzugeben, wenn jemand besser war als er. Sogar wenn dieser Jemand eine Frau war. Das war bei den Männern in ihren Kreisen keineswegs selbstverständlich.
„Wann hast du denn mit dem Radfahren angefangen?“, erkundigte sie sich.
„Vor ungefähr vier …“ Plötzlich verstummte er und presste die Lippen fest zusammen.
Er wirkte völlig erstaunt – und alles andere als erfreut.
„Du bist es ja doch!“, rief er schließlich ungläubig.
Dass er sie nicht gleich erkannt hatte, war für sie ein schwerer Schlag.
„Was willst du hier?“, fragte er schroff.
Bevor sie antworten konnte, leerte er das Glas mit dem Orangensaft über der Brüstung und stellte es auf den Tisch. So viel zu seinem Angebot einer Erfrischung!
Claire schluckte trocken, und nicht nur, weil sie nach der Anstrengung durstig war. „Ich muss dich sprechen, Ethan.“
„Ich habe dir doch klargemacht, dass ich dich nicht sehen will.“
„Deshalb habe ich beschlossen, ohne Vorwarnung bei dir aufzukreuzen.“
„Du bekommst ja immer, was du willst.“ Ethan klang zornig.
Es gefiel ihr nicht, dass er ihr unterstellte, sie wäre intrigant … und durch und durch verwöhnt, ja verzogen.
„Das stimmt nicht“, verteidigte sie sich.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hältst dich unbefugt auf Privatgrund auf.“
Claire ließ sich nicht einschüchtern. „Ich weiß.“ Sie verschränkte ebenfalls die Arme.“
Seine Miene wurde immer finsterer. „Ich möchte, dass du verschwindest.“
„Ja, gleich.“
„Sofort, Claire!“
„Früher warst du vernünftiger“, meinte sie, scheinbar unbeeindruckt.
Dabei war sie sehr von ihm beeindruckt, vor allem von seinem guten Aussehen und seinem durchtrainierten Körper …
„Ich bin immer noch sehr rational“, behauptete Ethan.
„Nicht aus meiner Sicht.“
„Dann komm doch ein bisschen näher“, schlug er spöttisch vor.
Ihre Haut begann zu prickeln, obwohl seine Worte eher drohend als einladend geklungen hatten.
„Nicht nötig“, erwiderte Claire. „Ich bin nicht kurzsichtig im Gegensatz zu dir. Offensichtlich hast du mich zuerst nicht erkannt.“
„Richtig! Sonst hätte ich dir auf halbem Weg schon zugerufen, du sollst umdrehen.“
Sie zuckte die Schultern. „Ich wäre trotzdem weitergefahren.“
Wenn es sein musste, konnte sie genauso dickköpfig sein wie er!
„Dass ich dich nicht erkannt habe, liegt an deinem Haar“, erklärte Ethan mürrisch. „Was hast du damit angestellt?“
„Es abschneiden lassen“, antwortete sie schnippisch. „So ist es praktischer.“
„Früher hat es manchmal wie ein Schleier dein Gesicht verborgen“, meinte er, beinah träumerisch.
„Ich brauche mich jetzt nicht mehr zu verstecken, Ethan!“
Er seufzte resignierend. „Okay. Sag, was du auf dem Herzen hast, und dann geh.“
„Zuerst wollte ich mich nochmals dafür entschuldigen, wie ich dich damals behandelt habe“, begann sie. „Ich hatte kein Rückgrat, also dachte ich, ich könnte mir deins borgen.“
„Es benutzen“, verbesserte er.
„Ja, benutzen.“ Da war wieder dieses unangenehme, aber zutreffende Wort. „Jedenfalls möchte ich dich um Verzeihung bitten, obwohl du nicht in der Stimmung zu sein scheinst, Nachsicht zu üben.“
„Du hast ja keine Ahnung, wozu ich in der Stimmung bin, Claire.“
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