Julia Extra Band 0293
meint, davon kann man gar nicht genug kriegen“, stimmte sie zu. „Aber einige Wochen später sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über Straßenkinder in den ärmsten Ländern der Welt, und deren unvorstellbares Elend ist mir so nahegegangen, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte.“
„Bei uns gibt es auch solche Kinder. Kinder, die weglaufen oder verstoßen werden, weil die Eltern drogenabhängig sind oder einfach nur gleichgültig.“ Unangenehme Erinnerungen überfielen ihn. „Manchmal sind Eltern auch einfach nicht mehr in der Lage, sich zu kümmern. Das Leben auf der Straße kann vergleichsweise rosig wirken, wenn zu Hause nur Chaos und Kummer herrschen.“
„War es so bei dir?“, erkundigte sie sich leise.
Eigentlich wollte er nicht darüber sprechen, aber irgendwie sprudelte seine Geschichte förmlich aus ihm heraus.
„Ja, zumindest für eine Weile. Nachdem mein Vater gestorben war. Mom kam damit nicht klar. Er hatte einen Berg Schulden hinterlassen … und uns drei Jungen, für die sie aufkommen musste. Sie hatte keinen Job und keine Qualifikationen, einen zu bekommen, also machte sie noch mehr Schulden.“ Seufzend strich er sich durchs Haar. „Inzwischen ist mir klar, dass sie an einer schweren Depression litt und sie auf die übliche Art armer Leute zu behandeln versuchte. Mit Alkohol. Nachdem Mom mal eine richtige Sauftour gemacht hatte, informierte eine Nachbarin das Jugendamt, und wir wurden von zu Hause weggeholt.“
„Oh, Ethan, ich …“
„Lass mich weitererzählen“, bat er sie.
Warum es ihm plötzlich wichtig war, ihr diese schreckliche Phase seiner Kindheit zu schildern, war ihm selbst nicht klar.
„Wir hatten noch insofern Glück, weil wir alle drei zu einer Tante kamen, nicht zu verschiedenen Pflegeeltern. Mom machte eine Entziehungskur und einige Kurse, um einen Job zu bekommen. Wir erhielten eine geförderte Wohnung, und nach anderthalb Jahren war die Familie wieder zusammen.“
Claire legte ihm die Hand auf den Arm. „Ich wusste nicht, dass du es als Kind so schwer hattest.“
Er zuckte die Schultern und schob ihre Hand weg. „Ich erzähle es nicht jedem.“
„Nicht einmal deiner Frau.“
„Wenn wir länger als zwei Tage verheiratet gewesen wären, hätte ich es vielleicht getan.“
Das war durchaus als kalte Dusche gemeint, denn er fühlte sich zu verletzlich und wollte seelischen Abstand schaffen. Aber Claires anschließende Frage war für ihn wie ein Boxhieb.
„Wieso hast du es mir jetzt gesagt, Ethan?“
Das konnte er nicht beantworten. Normalerweise schütte er nicht einfach so sein Herz aus, schon gar nicht einem nahezu fremden Menschen. Und das war sie – mittlerweile –, auch wenn sie ihm einmal so viel bedeutet hatte. Auch wenn sie vor langer Zeit in seinen Armen gelegen und Worte der Liebe geflüstert hatte …
„Jedenfalls nicht um dein Mitleid zu erregen“, erwiderte er schroff. „Das kannst du dir wirklich sparen. Ich hatte alles in allem eine glückliche Kindheit, nachdem Mom sich nach ihrer Problemphase zusammengerissen hatte. Wir waren nur nicht besonders begütert.“
„Im Gegensatz zu mir.“
Weil er sich noch immer verwundbar fühlte, fragte er, in bewusst gelangweiltem Ton: „Willst du mir jetzt das Klischee auftischen, dass man Glück nicht für alles Geld der Welt kaufen kann?“
„Auch Klischees können wahr sein“, konterte Claire. „Aber ich hatte eine glückliche Kindheit. Sicher, mein Vater ist tyrannisch, und meine Mutter kränkelt ständig, aber ich wurde nicht misshandelt oder … vernachlässigt.“
„Es gibt verschiedene Formen von Vernachlässigung“, meinte Ethan.
„Jedenfalls sind meine Eltern immer sehr großzügig gewesen, nur musste alles nach ihrem Willen gehen. Das hat mir nichts ausgemacht, bis ich erwachsen war. Dann hat es mich gestört, dass und wie sie mein Leben bestimmen wollten.“
Das Boot tuckerte gemächlich über die Wellen, das Wasser glitzerte im Sonnenschein.
„Du hast dich nie wirklich gegen deine Eltern gewehrt“, erinnerte sich Ethan. „Du hast dich von ihnen beherrschen lassen.“
„Das stimmt. Aber du hast dich für mich auch nicht unbedingt stark gemacht“, warf sie ihm vor.
„Es war nicht mein Widerstandskampf, Claire.“
„Trotzdem wollte ich wohl irgendwie, dass du dich für mich einsetzt“, sagte sie so leise, dass er sie kaum verstand. „Egal. Es ist alles so lang her.“ Plötzlich fröstelte sie. „Lass uns nach drinnen gehen. Mir wird
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