Julia Extra Band 0293
kalt.“
„Mir auch“, stimmte er zu. Ihm war tatsächlich kalt bis auf die Knochen, aber nicht unbedingt vom Wind.
Claire fühlte sich elend. Sie ging, gefolgt von Ethan, in die Kabine, wo es herrlich warm war. Sie setzten sich auf die Bank, hatten aber keine Augen für die spektakuläre Landschaft.
„Du bist plötzlich so still“, bemerkte Ethan. „Ist die Märchenstunde vorbei?“
„Wenn dir das lieber ist?“
„Um Himmels willen, ich will doch wissen, wie deine Geschichte ausgeht.“
Sein Lächeln wirkte ein bisschen schief, sein Ton spöttisch, aber sie wollte nicht darauf achten, sondern sich auf ihren Bericht konzentrieren.
„Okay, Ethan. Die Dokumentation hat mir die Augen geöffnet, wie elend es diesen Straßenkindern geht, die manchmal kaum aus dem Krabbelalter heraus sind. Hunger, Dreck, Drogen … und die perversen Erwachsenen, die sie ausnutzen.“
Schaudernd verzog sie angeekelt das Gesicht.
„Mir ist bei dem Film richtig übel geworden. Und ich bekam ein sehr, sehr schlechtes Gewissen.“
„Wieso das?“, fragte er erstaunt.
„Weil ich im Leben so viel habe. Zu viel, wenn man es genau nimmt, denn ich musste mich nie für irgendetwas anstrengen. Alles ist mir bei der Geburt so unverdient zugefallen wie mein Familienname.“
„Oh, du Arme, was für ein schweres Kreuz du zu tragen hast“, kommentierte Ethan ironisch.
Anscheinend versuchte er, sie herauszufordern, aber sie beschloss, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, sondern ihn nur kühl in die Schranken zu weisen.
„Es gibt auch umgekehrten Snobismus, mein Lieber.“
„Du meinst Arbeiter, die feine Herrschaften verachten? Zu denen zähle ich nicht“, protestierte Ethan.
„Lass mich dich eins fragen: Wenn du eines Tages Kinder hast, wirst du ihnen dann Dinge schenken, die du als Kind haben wollest, aber dir nicht leisten konntest?“
Ethan behagte die Richtung nicht, in die das Gespräch zielte. Nicht, dass er vorher viel Freude daran gehabt hätte!
„Ich werde sie nicht sinnlos verhätscheln, aber sie sollen alles haben, was sie brauchen.“
Ja, er konnte sich seine Kinder lebhaft vorstellen: ein Junge und ein Mädchen, beide mit dunklem Haar, Sommersprossen auf der Nase, leuchtenden Augen. Muntere Kinder voller Interesse und Wissensdurst …
Dass er sie plötzlich so deutlich vor dem inneren Auge sah, war ihm beinah ein bisschen unbehaglich. Bisher hatte er eigentlich nie an eigene Kinder gedacht. Oder nur ganz allgemein.
„Ich erinnere mich, dass du mal gesagt hast, für etwas zu arbeiten bilde den Charakter“, sagte Claire nachdenklich. „Es war bei unserem siebenten Rendezvous.“
„Wir waren bei einem Baseballspiel“, fügte er hinzu.
„Die Chicago Cubs haben gewonnen, dank dieses fantastischen Laufs des einen Spielers um das halbe Spielfeld.“
Erstaunt sah er sie an. „Ich hätte dich nicht für einen Fan des beliebtesten amerikanischen Ballsports gehalten.“
„Das bin ich eigentlich auch nicht.“
„Wieso erinnerst du dich dann so genau an dieses Spiel?“, wollte Ethan wissen.
Claire hüstelte und errötete heiß. „Jedes Mädchen erinnert sich an ihr erstes … Baseballspiel.“
Plötzlich fiel ihm wieder ein, was anschließend geschehen war, und nun wurde auch er rot. Er hatte es bei ihr sozusagen zur zweiten Phase der Beziehung geschafft, und möglicherweise wäre es sogar zur dritten gekommen, wenn ihre Eltern nicht vorzeitig von einer Dinnerparty nach Hause gekommen wären.
Er hatte sich über die Hintertreppe schleichen müssen, denn er war nicht präsentabel gewesen. Jedenfalls hätte kein anständiges Mädchen ihn ihren Eltern präsentieren wollen, wenn er allzu offensichtlich von der Tochter begeistert war.
Es hatte ihm nichts ausgemacht, denn es stimmte. Claire Mayfield hatte ihn unglaublich erregt.
Und beim Gedanken daran durchflutete ihn auch jetzt wieder heißes Verlangen. Nur gab es hier auf dem Boot keine Hintertreppe …
„Das hatte ich ganz vergessen“, gestand Ethan verlegen.
„Oh, vielen Dank!“ Sie lachte, aber sie wirkte zugleich ein wenig gekränkt.
„Es war durchaus erinnerungswürdig“, versicherte er ihr schnell. „Ich habe nur nicht mehr viel an diese Zeit meines Lebens gedacht.“
„Ich auch nicht“, gab sie zu. „Aber wenn man jetzt so zurückblickt … es war doch nicht alles schlecht, oder?“
„Nein, das war es nicht. Nur das Ende war unschön.“
Sie nickte und verschränkte ihre Finger ineinander. „Ich hätte nie erwartet,
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