Julia Extra Band 0319
Für einen Mann, der nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Der erst gar nichts mit ihr hatte zu tun haben wollen!
„Abigail.“ Ihr Vater mühte sich um Geduld. „Wir haben hart gearbeitet, um dahin zu gelangen, wo wir jetzt sind. Wir haben immer auf unseren Ruf geachtet, haben das Image der Frau genährt, die sich ganz und gar der Musik verschrieben hat.“
Dass ihr Vater ständig von „wir“ sprach, entging ihr nicht. Er glaubte wirklich, dass ihre Karriere und ihr Erfolg nur durch gemeinsame Anstrengungen möglich gemacht worden waren. So war es schon immer gewesen, von Anfang an. Seinem Empfinden nach hatte er ebenso viel Mühe investiert wie sie, deshalb traf ihn auch jedes Gerücht, jede Andeutung, jede Bedrohung persönlich.
Die Enttäuschung über den Betrug des gestrigen Abends jedoch fühlte er nicht.
Abby schaute wieder zum Fenster hinaus. Feiner Nieselregen hatte eingesetzt, ließ den Bürgersteig dort unten glänzen. Sie versteifte sich, als sie die Hand ihres Vaters auf ihrer Schulter spürte.
„Abby, was immer gestern Nacht auch passiert ist …“ Ihr Vater beendete den Satz nicht, aber sie wusste, es war das Beste, womit er aufwarten konnte. Für ihn war dies ein enormer Beweis von Zuneigung, und von irgendwoher schaffte sie es, ein Lächeln hervorzuholen.
„Ist schon in Ordnung, Dad.“
„Heute Abend musst du dir die Seele aus dem Leib spielen“, fuhr er fort, jetzt wieder ganz Manager. „Für eine göttliche Vorstellung werden alle Sünden vergeben.“
Sünden. Ein passender Ausdruck. Und Abby nickte, so als wäre sie der gleichen Meinung.
Abby spielte sich nicht die Seele aus dem Leib. Vielleicht, weil ihre Seele abgestorben war. Kalt und leblos kam sie sich vor, und so klang auch ihr Spiel. Sie brachte das Konzert zu Ende, doch dieses Mal kamen keine Bewunderer nach der Vorstellung zu ihrer Garderobe.
Vielleicht war das Publikum verwirrt, vielleicht kümmerte es aber auch niemanden.
Während Abby sich umzog, hörte sie ihren Vater draußen auf dem Korridor auf und ab gehen und mit ihrem Agenten telefonieren.
„Es heißt doch, nur keine Publicity ist schlechte Publicity. Ich weiß, Randall, aber das ist nur eine Phase, das geht vorbei. Wir haben noch sechs Konzerte auf dieser Tournee. Sie schafft das.“
Aber ich schaffe es eben nicht, dachte Abby plötzlich. Sie starrte auf ihr Konterfei im Spiegel und lauschte auf die immer drängender klingenden Bitten ihres Vaters. Und selbst wenn … ich will nicht. Vierundzwanzig Jahre lang hatte sie nur für die Musik gelebt. Jetzt wollte sie für sich selbst leben.
Als Abby aus der Garderobe trat, ließ ihr Vater das Handy gerade in die Tasche zurückgleiten. Müde lächelte er ihr zu.
„Heute Abend war nicht unsere beste Vorstellung, Abby. Aber uns bleiben zwei Tage, bevor wir in Mailand sein müssen. Wir beide könnten eine Pause gebrauchen.“
Wir , dachte Abby, immer wir. Als Mädchen hatte sie es gern gehört, weil sie dann das Gefühl gehabt hatte, Teil von etwas Großem zu sein. Heute irritierte es sie nur noch. „Ich möchte die restlichen Auftritte absagen“, hob sie leise an. „Ich bin ausgebrannt. Ich brauche mehr als nur ein paar Tage.“
Andrew starrte sie an. „Abby …“
„Seit sieben Jahren gebe ich Konzerte und mache Aufnahmen. Ich brauche eine richtige, eine lange Pause.“
Andrew atmete schwer aus. „Also gut, na schön. Aber erst nach dieser Tournee.“
„Ich kann nicht mehr“, gestand Abby schlicht. „Du hast mich doch heute gehört. Wir können das Geld für die Eintrittskarten zurückgeben, wir erstatten es, und …“
„Nein, können wir nicht“, fiel Andrew ihr ins Wort, und zum ersten Mal hörte er sich wirklich wütend an.
Fassungslos starrte Abby ihren Vater an. Ein Gefühl von Angst kroch ihren Rücken hoch. Endlich, nach einem langen Moment, fand sie ihre Sprache wieder. „Warum nicht?“, fragte sie tapfer.
„Weil ich es verloren habe, Abby.“ Verzweiflung rückte an die Stelle von Wut. Andrew ließ den Kopf hängen. „Ich habe alles verloren.“
5. KAPITEL
Sechs Monate später
In der warmen Septembersonne saß Luc in einem Straßencafé in Avignon und schaute auf die knappe Überschrift im Kulturteil der Le Monde .
Ausnahmepianistin Abigail Summers beendet ihre Karriere
Sein Magen zog sich zusammen. Es war das Schuldgefühl, das er die ganze Zeit versuchte im Zaum zu halten. Er hatte versucht, weder an Abby noch an jenen wunderbaren, wenn auch unerfüllten Abend vor
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