Julia Extra Band 0319
plötzlich der Möglichkeit gegenüber gesehen hatte, sie zu verlieren, da war ihm die Wahrheit bewusst geworden: Sie zu verlieren wäre viel schlimmer.
Jetzt hatte er die Wahl. Er konnte in die Sicherheit seiner Gefühllosigkeit zurückkehren, in den Zustand, wo er niemanden verletzte und niemand ihn verletzte. Er konnte das Schloss verschlossen und still wie ein Grab halten. Oder es verkaufen, wie er heute Nachmittag vorgehabt hatte, in der Überzeugung, es wäre der einzige Weg, vorzugeben, die Vergangenheit hätte nie existiert. Oder er konnte das Risiko eingehen. Er konnte die Liebe wählen statt der Sicherheit, das Leben statt der Abgestumpftheit. Er konnte es wählen, zu fühlen, auch wenn Gefühle in ihrer Macht beängstigend sein konnten. Er musste eine Wahl treffen.
Irgendwo im Haus knirschte es leise, es klang wie ein Seufzer. Langsam streckte Luc die Hand aus, seine Finger krallten sich in das erstbeste erreichbare Laken. Ebenso langsam zog er daran, dann immer fester, bis das Laken von dem Möbel rutschte – und das Leben begann.
Mit vorsichtigen Schritten wanderte Abby durch das Bauernhaus, Emilie auf dem Arm. Seit der Geburt war eine Woche vergangen, und alles fühlte sich noch neu und zerbrechlich an.
Unsicher. Nur eines ist sicher, dachte Abby, als sie auf das Gesichtchen ihrer schlafenden Tochter blickte. Dieses neue Leben ist pur und absolut und grandios.
„Ich lege sie in die Wiege“, sagte sie zu Luc, der im Türrahmen stand und angespannt zu ihr hinübersah.
„Ich habe alle Dinge ins Arbeitszimmer stellen lassen. Weil du noch keine Treppen steigen darfst.“
„Welche Dinge?“
Luc lächelte schief. „Ich habe Dinge geordert, aus Paris. Von allem, was mir einfiel.“
Abby ging zum Arbeitszimmer und blieb stehen, erstaunt über die Veränderung. Überall hing weißer und pinkfarbener Tüll, an einer Wand stand ein großer Schrank, gegenüber ein Kinderbett, ein Wickeltisch, eine Schubladenkommode und ein Regal, in dem mindestens zwei Dutzend Plüschtiere saßen. „Du hast richtig zugeschlagen, oder?“
Er nickte. „Wir hätten vorher daran denken sollen.“
„Keiner von uns war wirklich darauf vorbereitet.“ Weil sie beide die Augen vor der Realität verschlossen hatten, vor der Zukunft und vor sämtlichen offenen Fragen. Doch Abby wusste, dass es sich nicht länger hinausschieben ließ. Es wurde Zeit für die Wahrheit. Sie legte Emilie in ihr Bettchen und deckte sie zu, dann drehte sie sich zu Luc um. „Luc …“
Er legte den Finger an die Lippen. „Nicht hier. Sonst weckst du sie auf.“
„Dann lass uns nach draußen gehen“, sagte sie entschieden und ging voran auf die Terrasse.
Die warme Sommerluft hüllte sie ein, und ein Stich der Trauer durchfuhr Abby. Sie würde diesen Ort vermissen, die glückliche Zeit, die sie hier verlebt hatte. Aber am meisten würde Luc ihr fehlen. Sein Lächeln, seine Blicke und das Versprechen auf eine glückliche Zukunft, in der sie gemeinsam ihre Tochter aufwachsen und erblühen sehen könnten.
Abby schluckte und verdrängte das Bedauern. „Ich brauche wohl noch ein paar Wochen, bis ich mich erholt habe, aber danach sollte ich wohl gehen.“ Die Worte kamen mit einer Entschiedenheit über ihre Lippen, die sie ganz und gar nicht verspürte. Im Gegenteil, sie fühlte sich elend.
Eine Sekunde lang wirkte Luc schockiert und entsetzt, und Hoffnung keimte in Abby auf. Dann wurde seine Miene ausdruckslos. Sein gleichgültiges Schulterzucken stieß Abby ein Messer ins Herz.
„Wenn es das ist, was du willst.“
Was für ein kalter, lapidarer Satz! Wut flammte plötzlich auf. Nach allem, was sie miteinander geteilt hatten?! Sie hatte soeben seinem Kind das Leben geschenkt! „Ist das alles, was du zu sagen hast?“
„Ist es denn nicht das, was du hören willst?“
„Was ich will?!“ Sie erstickte fast an den Worten. „Was haben wir denn hier die letzten Monate getan, Luc? Nur gespielt? Keiner von uns beiden hat die Zukunft angesprochen, wie es weitergehen soll. Wir haben nie …“ Sie holte tief Luft, zwang sich, fortzufahren. „Wir haben mit keinem Wort über Gefühle gesprochen, sondern stattdessen unsere Köpfe in den Sand gesteckt. So können wir nicht weitermachen.“ Nichts an seiner Miene veränderte sich. „Ich kann so nicht weitermachen“, fügte sie leise hinzu. „Weil ich mir mehr wünsche und weiß, dass ich es von dir nicht bekommen kann.“ Weder sagte Luc etwas noch rührte er sich, aber Abby brauchte eine
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