Julia Extra Band 0328
Sessel zurückgelehnt, lauschte sie mit geschlossenen Augen dem meisterhaften Klavierspiel und verlor jegliches Gefühl für Zeit und Raum. „Oh, Hattie“, wisperte sie. „Ich hatte ja keine Ahnung …“
Im Geist sah sie sie vor sich, jung, schön, talentiert. Und Logan als kleinen Jungen in ihrem Garten mit den weißen Rosen. So viel war seitdem geschehen … Heute war er ein erwachsener Mann und seine Großmutter eine gebrechliche alte Dame.
Aus einem ihr unerklärlichen Grund fing sie an zu weinen.
Am folgenden Abend rief sie in Clifton House an und ließ sich mit Mrs. Lane verbinden.
„Hallo?“, meldete sich eine zittrige Stimme.
„Hattie?“
„Ja.“
„Sally Finch am Apparat. Logan hat mir eine Ihrer CDs geliehen, und ich wollte Ihnen nur sagen, wie schön sie ist.“
„Danke, Sally. Wie lieb von Ihnen, deshalb anzurufen.“
„Ihr Klavierspiel ist einfach wundervoll. Ich fand es so ergreifend, dass mir die Tränen kamen.“
„Wirklich. Es freut mich, dass Ihnen die Musik so gut gefällt.“ Sie machte eine Pause. „Sagten Sie, Logan hat Ihnen die CD gegeben?“
„Ja.“
„Was Sie nicht sagen. Und wenn ich mich nicht täusche, begleiten Sie ihn zu diesem Wohltätigkeitsball.“
Das hat sich aber schnell herumgesprochen! „Ganz recht. Hat Logan Ihnen davon erzählt?“
„Nein, seine Schwester. Sie rief mich heute Nachmittag an, und als sie hörte, dass wir uns bereits kennen, wollte sie alles Mögliche über Sie wissen.“ Hattie lachte vergnügt. „Sie wirbeln ganz schön Staub auf, meine Liebe.“ Dann wurde sie wieder ernst. „Sie werden doch vorsichtig sein, nicht wahr?“
„Ich … ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
„Ach … Dann lassen wir das Thema wohl besser fallen.“
„Nein, bitte nicht. Wenn es Dinge gibt, die ich wissen sollte, wäre es mir lieber, Sie sagen sie mir.“
Nach einer langen Weile erwiderte Hattie: „Mein Enkel würde Sie nie absichtlich verletzen, Sally. Er ist ein lieber Junge und ungemein großzügig. Ohne seine Unterstützung wäre ich nicht in diesem exklusiven Heim, und seine Eltern könnten nicht in Australien umherreisen. Aber leider denkt er an nichts anderes als sein Unternehmen. Er ist fest entschlossen, nicht die gleichen Fehler wie sein Vater zu machen.“
Höflich verkniff sich Sally die Frage, welche Fehler Logans Vater denn gemacht hatte.
„Bei ihm ist das zu einer fixen Idee geworden“, fuhr Hattie fort. „Nur eine ganz außergewöhnliche Person könnte ihn von seinem gegenwärtigen Kurs abbringen.“ Sie schwieg, dann fügte sie nachdenklich hinzu: „Allerdings habe ich den Eindruck, dass Sie, meine Liebe, eine sehr außergewöhnliche junge Dame sind.“
Bei einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht – oder wenn sie sich schon länger kennen würden – hätte sich Sally mit dieser kryptischen Bemerkung nicht zufriedengegeben. Welchen Kurs verfolgte er und weshalb sollte man ihn davon abbringen?
Nachdem sie aufgelegt hatte, fragte sie sich, ob seine Großmutter vielleicht jeder Freundin ihres Enkels Hochzeitsabsichten unterstellte und sich deswegen um ihn sorgte.
Nun, was sie anging, da brauchte Hattie Lane keine Angst zu haben. Sally Finch tanzte zwar für ihr Leben gern, aber eine Traumtänzerin war sie nicht.
11. KAPITEL
Sechs Uhr abends, und Logan saß noch immer am Schreibtisch. Jedes Mal, wenn er aufsah, war das Wasser im Hafen ein wenig dunkler und die Autoschlange auf der Brücke ein wenig länger. Auch für ihn wurde es langsam Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Noch eine Viertelstunde, nahm er sich vor. Dann war Schluss für heute.
Es klopfte, die Tür öffnete sich einen Spalt, und eine weibliche Stimme fragte: „Darf man eintreten?“
Er hob den Kopf und lächelte. „Sally! Was tun Sie denn noch hier?“
„Ich hätte Sie gern gesprochen.“
„So?“ Logans Kehle war plötzlich trocken – das hörte sich nicht sehr gut an. „Deswegen brauchten Sie doch nicht bis nach Büroschluss warten. Meine Tür steht Ihnen jederzeit offen.“
Sallys Blick wanderte zu der CD in ihrer Hand, dann hob sie den Kopf. „Ich wollte sicher sein, dass niemand dieses Gespräch mit anhört.“
„Ich verstehe.“ Sein ungutes Gefühl wurde stärker. „Betrifft es den Ball? Sie wollen doch nicht etwa absagen.“
„Das würde ich Ihnen nicht antun, schon gar nicht auf den letzten Drücker.“ Ein Lächeln erhellte ihr hübsches Gesicht. „Gestern habe ich mir mein Kleid ausgesucht. Es ist
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