Julia Extra Band 0328
keines Blickes. Sein düsterer Blick galt den Häusern draußen, die vor dem Fenster vorbeihuschten, während er mit den Fingerspitzen auf die Armlehne trommelte und damit preisgab, wie aufgewühlt er war.
„Tariq, das ist doch verrückt!“, rief Jessa. „Meine Schwester hat ihn adoptiert! Sharon ist seine Adoptivmutter. Es ist alles mit rechten Dingen zugegangen und kann nicht einfach ungeschehen gemacht werden!“
„Erzähle mir nicht, was geht und was nicht geht“, sagte er und sah sie mit bohrendem Blick an. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt, so kalt und brutal. „Du hast mich mit allem hintergangen. Du hast ein Kind vor seinem eigenen Vater versteckt. Und du willst mir vorschreiben, was ich tun oder lassen soll?“
„Ich habe ja Verständnis dafür, dass du verärgert bist.“ Jessa bemühte sich, die Situation zu entschärfen. Doch ihr Lachen klang gekünstelt. „Und ich verstehe auch, dass du glaubst, du seist hintergangen worden.“
„Dass ich glaube, ich sei hintergangen worden?“, wiederholte er mit dumpfer Stimme. Seine Augen schossen Blitze. Angewidert rutschte er weg von ihr. „Du hast doch keine Ahnung, wie sehr ich mich von dir verraten fühle.“
„Es geht nicht um dich.“ Obwohl sie zitterte, wollte sie ihn das nicht merken lassen. „Verstehst du das nicht? Es hat nichts mit mir oder mit dir zu tun. Es geht um …“
„Wir sind da“, unterbrach er sie abweisend, als der Wagen vor Sharons Einfahrt anhielt. Statt zu warten, bis der Fahrer ihm die Tür öffnete, stieß Tariq sie selbst auf und sprang hinaus.
Jessa hüpfte hinterher und ergriff seinen Arm.
„Lass mich los“, sagte er fast tonlos.
„Du musst mich anhören“, bat sie atemlos. „Du musst!“
„Ich habe genug von dir gehört“, zischte er. Vor Zorn funkelten seine Augen schwarz wie die Nacht.
„Zumindest eines habe ich richtig gemacht“, fuhr Jessa fort und kämpfte mit den Tränen. „Ich habe sichergestellt, dass Jeremy bei Menschen aufwächst, die ihn lieben, die ihn immer schon geliebt haben. Er hat bei ihnen alles und ist glücklich, Tariq. Glücklicher, als ich ihn jemals hätte machen können.“
„Ein Kind ist dann am glücklichsten, wenn es bei seinen Eltern ist“, beharrte Tariq.
Klang seine Stimme eine Spur weniger kalt oder irrte sie?
Ihre Finger in seinen Arm gekrallt, sah Jessa ihn an. Jetzt musste er sie anhören.
„Er ist bei seinen Eltern“, flüsterte sie verzweifelt.
An Tariqs Wange zuckte ein Muskel. Er schüttelte ihre Hand ab. Jessa ließ es zu.
„Er ist von meinem Blut!“, stieß er aufgebracht hervor. „Von meinem! “
„Das hier ist seine Familie“, rief sie. „Genau diese hier. Er kennt doch nur diese Eltern!“
„Ihr seid eine Familie von Lügnern“, schleuderte er ihr entgegen.
„Du hast deine Eltern verloren, genau wie ich“, betonte Jessa. Ihr Herz drohte zu zerspringen. Sie betrachtete seine abweisende, zornige Miene. „Du weißt aus eigener Erfahrung, wie es ist, aus allem, was dir lieb und teuer ist, herausgerissen zu werden. Wie kannst du das deinem eigenen Fleisch und Blut antun?“
Die Tür zum Haus schwang auf, und es war, als bliebe die Zeit stehen.
„Tante Jessa!“, rief eine Kinderstimme. Jessas Herz setzte aus.
„Tariq, du darfst das nicht tun!“, bekniete sie ihn.
Er schien sie nicht zu hören. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. Langsam wandte er sich um.
Mein Sohn.
Tariq stand wie erstarrt da, unfähig, sich zu bewegen, als der Junge die Treppe heruntergehopst kam. Er sprang direkt in Jessas Arme.
Mein Junge. Warum war er unfähig, seinen Namen auszusprechen? Jeremy.
Jessas Schwester erschien an der Tür.
„Jessa“, sagte sie. „Ich denke, du bist im Urlaub?“
Sie küsste den Jungen und setzte ihn wieder ab.
„Das war ich auch“, antwortete sie. Halb entschuldigend und halb hilflos hob sie die Schultern. „Wir wollten einfach kurz vorbeischauen.“
Jeremy befreite sich von Jessas Hand und richtete die dunklen Augen auf den Fremden. Tariqs Herz blieb fast stehen, als der Kleine auf ihn zukam und ihn unter seinem dichten schwarzen Haar neugierig musterte. Tariq hätte die Hand nach ihm ausstrecken können, doch er fühlte sich unfähig, ihn zu berühren. Seine Augen hatten das gleiche Grün wie seine eigenen.
„Hallo, Jeremy“, gelang es Tariq schließlich herauszubringen. „Ich bin …“
Dann hielt er inne. Die Spannung, die von Jessa und ihrer Schwester ausging, war fast greifbar. Jessa hatte die
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