Julia Extra Band 0347
verschwinden ließ. Langsam zog sie ihn heraus und leckte genüsslich den Rest der braunen Creme ab.
„Möchten Sie auch etwas?“, fragte sie mit hochgezogenen Brauen, während feine Schokoladenspuren ihre Mundwinkel verschmierten. Noah wollte dankend verneinen, doch er brachte nicht mehr als ein „Äh“ hervor. Stumm schüttelte er den Kopf.
„Es schmeckt göttlich“, erklärte sie mit glänzenden Augen.
„Oh.“
Na wunderbar! Er hatte zahlreiche Preise gewonnen, weil er die englische Sprache meisterlich beherrschte, doch in diesem Augenblick kamen ihm nur grunzende Laute über die Lippen. Er sah, wie sie vorsichtig den Löffel in dem Dessert verschwinden ließ, um einen cremigen Berg der Mousse herauszuholen.
Während sie einen weiteren Löffel zu ihrem Mund führte, leckte sich Noah unbewusst die Lippen. Dabei verspürte er plötzlich ein solches Verlangen, dass es ihn fast vom Stuhl kippen ließ. Mit heiserer Stimme sagte er: „Grace …?“
„Ja.“
Plötzlich war sein Kopf ganz leer. Wörter purzelten herum, doch er konnte keinen klaren Satz formulieren. Verzweifelt rang er nach irgendwelchen Phrasen. „Konzerte!“, platzte es aus ihm heraus. „Mögen Sie Livemusik?“
Graces Gesicht erhellte sich. „Ich liebe Livemusik! Gerade vor ein paar Tagen war ich auf einem Konzert“, erklärte sie, bevor sie sich wieder ihrem Nachtisch widmete.
„Tatsächlich?“
Sie nickte und schluckte. „Bei der Arbeit hören wir viel Musik.“
„Und was ist Ihre Arbeit?“, wollte Noah wissen.
„Ich arbeite in einem Café oben auf der High Street.“
Aus irgendeinem Grund schockierte ihn diese Information. Er hätte ihr etwas anderes zugetraut, obwohl es ihn zugleich faszinierte. Wie war sie dahin gekommen? Grace hatte bestimmt das Zeug zu mehr. Sein Gehirn fing an zu arbeiten und begann sein Gegenüber zu analysieren, wie eine Figur aus seinen Romanen.
Nach einer Weile des Schweigens blickte sie zur Tür und sagte hastig: „Apropos Café. Ich möchte keinen, davon habe ich sonst genug. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn wir aufbrechen.“
Sie griff nach ihrer Handtasche und schob den Stuhl zurück. Mit einem Schlag war die vertraute Atmosphäre und die Energie des Abends weg. Sie glättete ihren Rock, und er bemerkte Härte und Verletzlichkeit in ihrem Gesicht.
„Grace, es tut mir leid. Ich möchte auf keinen Fall …“ Er ergriff ihre Hand. „Bitte bleiben Sie.“
Doch sie schüttelte den Kopf. „Wissen Sie was, Noah? Ich glaube, das hat keinen Sinn mit uns. Es ist besser, wenn ich gehe.“ Sie stand auf und ging in Richtung Garderobe.
Ihm verschlug es die Sprache.
Er legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und eilte ihr hinterher.
Erst als die kalte Nachtluft ihr ins Gesicht schlug, kam Grace wieder zur Besinnung. Automatisch bog sie rechts ab und eilte die Vinehurst High Street hinunter, so schnell es eben in den High Heels ging, die sie aus Daisys Schrank genommen hatte.
„Grace!“
Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, ohne stehen zu bleiben. Immer wenn sie erzählte, womit sie ihr Geld verdiente, erntete sie dieselbe Reaktion. Nämlich einen Blick, der sagen wollte, warum sie nicht Ärztin oder Chefin eines Internet-Unternehmens geworden sei, wie so viele andere Frauen ihrer Generation.
Weil sie als alleinerziehende Mutter nicht in der Lage gewesen war, Zeit in eine Karriere zu investieren! Daisy hatte bereits ein Elternteil verloren, und es wäre unverantwortlich gewesen, sie einer Tagesmutter zu überlassen. Deshalb hatte sie sich einen Job gesucht, der ihr genügend Zeit für ihre Tochter ließ.
Die Besitzerin des Cafés war Robs Tante Caroline, kurz Caz genannt. Sie hatte Grace nach Robs Tod mit offenen Armen aufgenommen und ihr die Wohnung oberhalb des Ladens vermietet und ihr gewissermaßen das Leben gerettet. Zu ihren Eltern, die im Westen des Landes wohnten, hatte Grace nicht hinziehen wollen, denn Rob war hier auf dem Kirchfriedhof begraben, und sie brachte es nicht fertig, ihn zu verlassen.
Grace beschleunigte ihren Schritt. Sie musste sich nicht für ihren Job schämen. Sie machte die besten Torten in der Gegend. Aber selbst wenn sie es nicht täte, müsste sie sich nicht für diese Art des Geldverdienens entschuldigen.
„Grace!“
Sie blieb stehen und drehte sich um.
„Grace, Sie haben mich falsch verstanden. Es ist mir egal, ob Sie in einem Café oder sonst wo arbeiten. Es wäre schade, wenn dieser Abend so endet, finden Sie nicht?“
Er
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