Julia Extra Band 0347
hatte es ja nicht mit böser Absicht getan. Im Gegenteil!
Nur was bedeuteten all diese Dinge?
Er wusste es immer noch nicht, und das machte ihn ganz wirr im Kopf. Er verließ das Arbeitszimmer und ging in den Garten. Erstaunt stellte er fest, dass es bereits sechs Uhr abends war.
Es war einer dieser wunderbar lauen Londoner Sommerabende. Der Himmel hatte einen leicht pfirsichfarbenen Ton, und die Bäume rauschten in der warmen Brise. Noah besaß einen herrlich großen Garten mit kurz geschnittenem Rasen und alten Bäumen mit üppigem Blattwerk. Er hatte ihn nicht selbst angelegt, sondern von dem früheren Hausbesitzer übernommen, zusammen mit einem mürrischen Gärtner, der in unregelmäßigen Abständen aus dem Nichts auftauchte und Noah jedes Mal zu Tode erschreckte.
Noah überquerte die Rasenfläche und steuerte eine Bank an, die hinter einem Rhododendron versteckt lag. Als er jedoch dort ankam, war sie bereits besetzt.
Grace saß in sich zusammengesunken am Rande der Bank.
In dem kurzen Moment, bevor sie ihn erblickte und er ihren fast unerträglich traurigen Gesichtsausdruck sah, schien er wie vom Blitz getroffen.
Er liebte Grace.
Aus vollstem Herzen und mit jeder Faser seines Seins.
Es war ein Gefühl, das mit einem Schlag an die Oberfläche kam. Die Falltür seines Unterbewusstseins hatte sich geöffnet.
Erinnerungen, Bilder und alles, was er all die Jahre unterdrückt hatte und nicht fühlen wollte, kamen ihm ins Bewusstsein.
Er spürte plötzlich, dass er Grace nicht erst seit heute liebte. Er hatte sie vom ersten Moment an geliebt, als sie in sein Leben getreten war.
Grace, die seine Anwesenheit erst jetzt bemerkt hatte, sprang mit einem Satz auf. „Noah!“
Sie sah ihn an, und er brachte kein Wort über die Lippen. Dieses Gesicht gehörte der Frau, die er liebte. Er musste es mit neuen Augen betrachten, jeden vertrauten Zug neu erforschen. Sie war wunderschön. Natürlich hatte er das immer schon gesehen, aber jetzt …
Sie spürte, dass etwas anders war und sah ihn fragend an. Und da er immer noch keine Worte fand, antwortete er so, wie er es am besten konnte. Mit einem Schritt war er bei ihr, zog sie zu sich und küsste sie. Zunächst zögerte sie, doch nur nach wenigen Augenblicken war das gewohnte Prickeln wieder da, und voller Leidenschaft erwiderte sie seinen Kuss.
Sie schafften es nur bis zum Wintergarten, bevor sie voller Ungeduld begannen, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Trunken vor Lust erreichten sie wenig später das Schlafzimmer.
Für Noah war es, als hätte er die letzten Jahre nur Liebe im Dunkeln gemacht, und nun kam jemand und knipste das Licht an. Es ging nicht mehr nur um reines physisches Vergnügen und dumpfe Gefühle, die er nicht an die Oberfläche kommen lassen wollte.
Nach ihrem Liebesspiel lag Noah auf dem Bett und starrte an die Decke. Wenn er gewusst hätte, dass er zu solchen Empfindungen fähig war, hätte er sich schon vor zwanzig Jahren auf die Suche nach Grace gemacht. Warum hatte er nur all diese Jahre seine Zeit verschwendet?
Er zog sie fest an seinen Körper, während sie seine Arme an sich drückte und begann, seine Hände zu küssen. Zunächst war er überglücklich und wäre am liebsten auf dem Bett herumgehüpft. Aber dann fragte er sich, warum sie überhaupt mit ihm geschlafen hatte, da sie ihm in den letzten Tagen doch stets ausgewichen war. Ihre Hingabe heute hatte eine ergreifende Süße, fast etwas Trauriges, gehabt.
Als ihm die Wahrheit klar wurde, füllten sich seine Augen mit Tränen. Ihr Zusammensein war kein Akt der Versöhnung gewesen, wie er gehofft hatte.
Grace hatte ihm Lebewohl gesagt.
Die ganze nächste Woche vergrub sich Noah in seinem Arbeitszimmer. Er wusste nicht, wie er das, was zwischen ihm und Grace passiert war, hätte in Ordnung bringen sollen. Aber er wusste, wie er Karl verändern musste. Also kümmerte er sich vornehmlich um ihn. Während dieses Prozesses sah er plötzlich, was Grace gemeint hatte. Er begann, sich selbst zu sehen, nicht Karl.
Karl liebte seine Doppelagentin jetzt mit voller Hingabe. Er wollte eher sterben, als sie verraten, obwohl es bedeutete, selbst Opfer ihres Verrats zu werden. Während er all dies in seine Geschichte einwebte, wurde ihm vieles klar.
Aber es wäre nicht genug, das alles Grace zu erklären. Er hatte ihr das Herz gebrochen und weder Worte noch geschliffene Sätze konnten es wieder heilen. Plötzlich erkannte er, was Caz gemeint hatte.
Am Abend vor ihrer Abreise nach Paris
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