Julia Extra Band 0350
Mitgefühl geweckt. Sie war also gewissermaßen auch eine Waise wie er. „Aber abgesehen von den fehlenden Ersparnissen hatten Sie genug Geld für die Reise.“
„Gerade so“, bestätigte Hannah. „Ich musste den Laden für die Zeit natürlich zumachen und alles zusammenkratzen …“ Sie verstummte und schüttelte den Kopf. „Warum erzähl ich Ihnen das? Es ist total langweilig und uninteressant, besonders für einen Millionär, wie Sie es sind.“
Milliardär, genau genommen, aber Sergej verbesserte sie nicht. Er war zu neugierig, mehr über ihren Laden und ihr Leben zu erfahren, vor allem, warum sie ihn so ansah, als würde sie ihm vertrauen … als würde sie jedem vertrauen. Hatte das Leben sie denn gar nichts gelehrt? Es weckte in ihm den widersprüchlichen Wunsch, ihr sämtliche Illusionen zu rauben und sie gleichzeitig vor allem Bösen zu beschützen.
Du willst mit ihr ins Bett, rief er sich ins Gedächtnis. Einfach. Unkompliziert.
„Sie erwähnten einen Laden …?“ Er rückte ein wenig näher, sodass sein Bein ihres berührte.
Hannah atmete bebend ein. „Der … Laden, ja“, sagte sie heiser.
Wenn sie auf diese leichte Berührung schon derart heftig reagierte, wie würde es dann erst sein, sie in den Armen zu halten? Sie im Bett zu haben? Für einen Moment kehrten seine Gewissensbisse zurück. Jeder ihrer Blicke, ihr ganzes Verhalten verriet, dass sie noch unschuldig war. Er hatte sich immer erfahrene Geliebte ausgesucht, die vom Leben nicht mehr erwarteten als er und seine Regeln verstanden. Die nie versuchten, ihm nahe zu kommen.
Denn wenn sie es versucht hätten, wenn sie geahnt hätten … Sergej verdrängte seine Schuldgefühle und verschloss sein Herz. Viel besser war es, sich auszumalen, wie er der reizenden Hannah das Kleid von den Schultern streifte und seine Lippen an ihren zarten Hals presste. Sie wollte ihn. Er wollte sie. Einfach. Unkompliziert.
All ihre Sinne schienen geschärft zu sein. Auch wenn Hannah sich ermahnte, dass es dumm sei … sie hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Dabei unterhielten sie sich doch nur. Aber als sein Bein ihres streifte, schien sich seine Wärme und Kraft unmittelbar auf sie zu übertragen, und ihr Blick hing fasziniert an seinem markanten Gesicht, das im flackernden Licht der Kerzen noch geheimnisvoller wirkte.
„Ja, der Laden …“ Sie riss sich zusammen. „Meine Eltern haben ihn aufgemacht, bevor ich geboren wurde, und ich habe ihn nach ihrem Tod übernommen.“
„Was für eine Art von Laden?“
„Handarbeiten. Vor allem Strickwolle, aber auch Stickgarn und Nähutensilien. Alles, was wir … was ich hoffentlich verkaufen kann.“ Auch ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Mutter war es immer noch seltsam … und traurig …, sich bewusst zu machen, dass es jetzt ihr Laden war. Allein ihr Laden.
„Und Sie konnten keine Vertretung für die Dauer Ihrer Reise finden?“
„Ehrlich gesagt, ich kann sie mir nicht leisten. Hadley Springs ist eine sehr kleine Stadt, und außerhalb der Ferienzeit kommt nicht viel Kundschaft.“
„Wo befindet sich denn dieses Hadley Springs?“
„Etwa vier Stunden nördlich von New York.“
„Dort muss es sehr schön sein.“
„Das ist es wirklich.“ Hannah liebte die raue Schönheit der Gebirgslandschaft der Adirondacks, dennoch konnte es für eine junge Frau von Anfang zwanzig auch ziemlich einsam sein. Sergejs Blick verriet, dass er genau dies ahnte.
„Sie hatten nie den Wunsch, von dort wegzuziehen?“
„Nein, nie …“ Hannah verstummte. Genau genommen hatte ein solcher Wunsch einfach nie zur Debatte gestanden. Ihre Eltern hatten sie zu sehr gebraucht, irgendjemand musste sich um den Laden kümmern, und sie konnte sich nicht vorstellen, das alles jetzt im Stich zu lassen. Allein schon zum Andenken an ihre Eltern fühlte sie sich verpflichtet, den Laden zum Erfolg zu führen. Ihre Eltern hätten es so gewollt, ja, erwartet. Andererseits … „Ich wüsste ja gar nicht, wohin ich gehen sollte“, fügte sie hinzu und verwarf die Frage … und ihre plötzlichen Zweifel.
Sergej lächelte. „Die Möglichkeit kann etwas Beängstigendes sein.“
„Vermutlich“, erwiderte Hannah. Bisher hatte sie sich nie gestattet, über solche Möglichkeiten nachzudenken, aber jetzt, bei Kerzenschein in diesem Separee mit diesem charismatischen Mann, schien plötzlich alles möglich zu sein.
Er betrachtete sie forschend. „Sie denken daran, den Laden zu verkaufen.“
„Nein …“ Sie hatte an ihn
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