Julia Extra Band 0350
gedacht. Aber sie konnte nicht leugnen, dass seine Fragen in ihr eine Tür geöffnet hatten, durch die sie noch nicht ganz bereit war zu gehen. „Der Laden war der Lebenstraum meiner Eltern. Ihr Baby.“
„Waren nicht Sie ihr Baby?“
Warum musste er alles so zynisch betrachten? „Sie wissen ganz genau, was ich meine. Meine Eltern haben all ihre Ersparnisse und all ihre Kraft in diesen kleinen Laden gesteckt. Mein Vater erlitt einen Schlaganfall, als er im Lagerraum Kisten aufstapelte.“ Sie schluckte. „Der Laden hat ihnen wirklich alles bedeutet.“
„Er war also der Traum Ihrer Eltern“, sagte Sergej. „Aber ist er auch Ihr Traum? Jeder braucht seinen eigenen Traum.“
„Was ist Ihrer?“, fragte Hannah sofort.
„Erfolg“, antwortete er. „Und Ihrer?“ Er musterte sie durchdringend. Hannah schluckte und suchte nach einer lockeren Bemerkung, um die plötzliche Unsicherheit zu überspielen, die Sergej so unvermutet in ihr aufgedeckt hatte. Er schien das zu verstehen, denn er beantwortete seine Frage lächelnd selbst: „Vielleicht war ja diese Reise Ihr Traum.“
„Ja“, bestätigte sie entschieden. „Genau.“ Und jetzt war dieser Traum zu Ende. In ein, zwei Tagen würde sie den Laden wieder aufschließen, sich mit den Rechnungen befassen und sich der wachsenden Erkenntnis stellen, dass das „Baby“ ihrer Eltern tatsächlich nur sehr wenig Geld einbrachte. Sie hatte Ideen, Pläne für Verbesserungen, die ihre Pläne waren. So, wie der Laden jetzt ihr gehörte. Sie war sich nur nicht sicher, ob es auch ihr Traum war. Doch sie verdrängte diesen unbequemen Gedanken. „Ihr Traum ist also Erfolg“, sagte sie entschlossen, um das Gespräch von sich abzulenken. „Erfolg worin?“
„In allem.“
„Was für ein Traum! Aber diesem Hotel nach zu urteilen, befinden Sie sich auf dem besten Weg, ihn wahr zu machen.“
In diesem Moment erschien ein Ober und begann, ernst und konzentriert die Vorspeise zu servieren.
„ Spasiba, danke, Andrej.“
Der junge Mann lächelte stolz und zog sich mit einer kleinen Verbeugung zurück. Hannahs Neugier war wieder erwacht. Kannte Sergej all seine Angestellten mit Namen? „Wie haben Sie Ihr Imperium aufgebaut? Ist es ein Familienunternehmen?“
Sergej blickte einen Moment nachdenklich in sein Weinglas. „Nein“, erwiderte er dann. „Es ist kein Familienunternehmen.“
„Sie haben es ganz allein geschafft?“
„Ja. Ich habe schon sehr früh gelernt, dass man nur so Erfolg hat. Man darf sich von niemandem abhängig machen. Und niemandem vertrauen“, sagte er kalt.
„Aber es muss doch irgendjemanden geben, dem Sie vertrauen?“
„Nein. Niemanden.“
Sie schüttelte den Kopf. „Das finde ich sehr traurig.“
„Wirklich?“ Er lächelte amüsiert. „Ich finde es zweckmäßig.“
„Und das ist noch trauriger.“
Sergej beugte sich zu ihr vor. Seine blauen Augen funkelten wie Eiskristalle. „Irgendwann im Leben stellt man fest, dass die Menschen einen enttäuschen. Im Stich lassen. Ich finde es besser, das zu akzeptieren und sein eigenes Ding durchzuziehen, anstatt zuzulassen, dass man immer wieder enttäuscht wird.“
„Und ich“, erwiderte Hannah unbeirrt, „finde es besser, an die Menschen zu glauben und die Hoffnung nicht zu verlieren, anstatt so abgestumpft und zynisch zu werden, wie Sie es offenbar sind.“
Er lachte herzlich und lehnte sich zurück. „Wir beide sind wirklich sehr unterschiedlich“, erklärte er dann mit einem unmissverständlich bewundernden Blick.
„Ja“, pflichtete Hannah ihm heiser bei. Ihr Herz pochte. Aus ihrer kleinen Meinungsverschiedenheit war plötzlich etwas ganz anderes entstanden. Ebenso anregend. Aber viel verlockender. Sie bildete sich nicht ein, wie begehrlich Sergej sie anschaute. Und sie bildete sich ganz bestimmt nicht ein, welche Gefühle sein glühender Blick in ihr weckte. Sergej Kholodov mochte ein zynischer Mensch sein, aber er war auch unglaublich sexy. Und sie war alles andere als immun dagegen.
„Was … ist mit Ihren Eltern“, versuchte sie zu einem unverfänglichen Thema zu wechseln. „Zumindest als Kind müssen sie doch von ihnen abhängig gewesen sein.“
Alle Wärme wich aus seinem Blick. Augenscheinlich hatte sie genau das falsche Thema gewählt. „Nein. Ich bin Waise, wie Sie es sind. Keine Familie mehr, die sich um Ihren kleinen Laden kümmert … und keine Familie für mein Unternehmen.“
„Wann sind Ihre Eltern gestorben?“, fragte sie mitfühlend.
„Schon vor
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