Julia Extra Band 0350
soeben über deine Kindheit erfahren habe, hätte ich gedacht, dass das der letzte Ort wäre, an dem man dich finden würde.“
„Ich bin für meinen Halbbruder eingesprungen.“ Jetzt, da er von ihren Eltern wusste, konnte sie ihm die Wahrheit sagen. „Meine Stiefmutter war immer nett zu mir. Inzwischen ist sie wieder verheiratet – mein Vater starb vor zehn Jahren. Mein Halbruder hat aus ihm eine Art Heldenfigur gemacht und die gleiche Karriere eingeschlagen.“ Sie seufzte schwer. „Rick wusste, dass ich in Mailand war, und bat mich, für ihn zu übernehmen. Mir war nicht klar, dass er deinen Neffen als Model angeheuert hatte.“
Marco erkannte, dass sie die Wahrheit sagte. Maßloses Schuldgefühl setzte ein und verstörte ihn. „Warum hast du mir das nicht gesagt?“
„Du hättest mir ja doch nicht geglaubt“, gab Lily trocken zurück.
„Ja, wahrscheinlich wäre ich gar nicht bereit gewesen, dich anzuhören. Es tut mir leid, dass ich dich so falsch beurteilt habe.“
„Schon gut.“ Lily konnte ihm nicht gestehen, dass sie bewusst Abstand zu ihm hatte halten wollen, aus Angst vor der Wirkung, die er auf sie hatte. Und das war auch richtig so gewesen, denn jetzt wusste sie nicht nur, dass er ihre Gefühle nicht erwiderte, sondern sie hatte zudem erfahren, dass er noch immer um das Mädchen trauerte, das er hatte heiraten wollen.
Sie erinnerte sich an ihre Pflichten, an ihre Arbeit und die Herzogin und wollte wieder in den Salon zurückkehren, doch Marco holte sie ein und brachte sie mit seiner nächsten Frage abrupt zum Stehen.
„Und Anton? Erzähl mir von ihm.“
Lily schnappte scharf nach Luft. „Da gibt es nichts zu erzählen.“
Sie log, Marco wusste es. Doch anstatt sich darüber zu ärgern, verspürte er plötzlich Neugier. Oder war es etwas anderes, etwas Unbekanntes und sehr viel Persönlicheres? Etwa Sorge um Lily?
Während er noch mit diesen Gedanken beschäftigt war, ging Lily weiter. Sie wirkte so verletzlich und gab sich doch solche Mühe, stark zu sein. Niemand sollte sich nur auf die eigene Stärke verlassen und ohne die Hilfe eines anderen Menschen auskommen müssen. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie einsam und verlassen man sich in einem solchen Zustand fühlte.
Er eilte ihr nach und legte seine Hand an ihren Ellbogen. Sie würden zusammen zu den Gästen zurückkehren.
Nach dem emotionellen Trauma verging der Abend für Lily wie in einem unwirklichen Nebel. Die Schleier zerrissen nur, als die Herzogin sie und Marco durch die Kunstsammlung des Hauses führte. In dem Moment übernahm Lilys berufliches Pflichtgefühl. Sie machte sich genaue Notizen und nahm Fotos auf.
Später in der Suite besah Marco sich ihre Kamera genau. „Kein Wunder, dass du so professionell damit umgehst. Du hast es praktisch in die Wiege gelegt bekommen.“
„Stimmt“, erwiderte sie nüchtern. „Obwohl ich nie Interesse an Mode entwickelt habe, sondern nur an der Kunst.“
„Aber nicht an moderner Kunst?“
„Mit der Kunst der vergangenen Jahrhunderte fühle ich mich wohler. Sicherer.“ Ihr wurde erst klar, was sie da preisgegeben hatte, als sie seinen abschätzenden Blick sah.
„Sicherer?“
„Weil sie bereits etabliert ist. Ich brauche mich nicht allein auf mein eigenes Urteil zu verlassen“, versuchte sie sich zu rechtfertigen.
„Das Bedürfnis nach Sicherheit scheint ein ständig wiederkehrendes Thema in deinem Leben zu sein.“
Lilys Herz pochte wild. „Das ist vermutlich der Preis für ständig streitende Eltern. Man wird überempfindlich. Du kannst das Bad zuerst benutzen“, wechselte sie schnell das Thema. „Ich habe noch eine Weile zu arbeiten. Ich möchte meine Notizen übertragen.“
Marco nickte. Er war lange nicht so immun gegen sie, wie er sein müsste. Nur weil sie Mitgefühl für ihn gezeigt hatte, als er von Olivia sprach, hieß das nicht, dass sie mehr für ihn empfand oder ihn gar begehrte. Doch er könnte sie dazu bringen, ihn zu begehren. Sie beide hatten schmerzhafte Erfahrungen durchgemacht, er könnte ihren Schmerz lindern. Könnte ihr zeigen, dass sie in seinen Armen viel mehr Vergnügen empfinden würde als in den Armen des Mannes, nach dem sie sich sehnte, obwohl sie ihn fürchtete.
Was dachte er da nur? Alte Gewohnheiten und Erfahrungen warnten ihn, dass er Lily nicht so nah an sich heranlassen durfte. Sie hatten vielleicht ähnliche Erfahrungen gesammelt, aber deswegen konnte er ihr noch lange nicht vertrauen.
„Dann wünsche ich jetzt Gute
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