Julia Extra Band 0350
Emotionen strömten über ihn hinweg – wie eine Flut über ausgetrocknete Erde, die die Wassermassen nicht bewältigen konnte. Und wie immer, wenn Gefühle ihn zu überwältigen drohten, nahm Marco Zuflucht in pragmatischen Überlegungen. Er ging zum Barschrank und goss einen Cognac für Lily ein. „Hier trink das. Das beruhigt.“
Lily nippte gehorsam an dem Glas, das er ihr reichte. Der Alkohol brannte wie Feuer in ihrer Kehle, wärmte ihren Magen und machte sie leicht schwindelig. Warum nur hatte sie Marco das alles erzählt? Sie wünschte verzweifelt, sie hätte den Mund gehalten, doch jetzt war es zu spät.
Nach und nach wurde Marco die volle Bedeutung ihrer Worte bewusst. Sie trug eine enorme emotionale Last mit sich herum, das verstand er jetzt. Und dadurch, dass er sie so falsch beurteilt hatte, hatte er noch mehr Gewicht auf ihre Schultern geladen. Wie ein Blinder tastete er sich auf unbekanntes Gebiet vor, wusste nur, dass er etwas für sie tun musste. Wusste, dass es ihm wichtiger war, sie zu trösten, als die eigenen Gefühle zu schützen und Distanz zu wahren. Er wollte ihr helfen, wollte sie trösten und lieben … Lieben? Ja, tatsächlich, er wollte sie lieben.
Doch erst musste sie sich die Dinge von der Seele reden, Dinge, die sie so lange in sich verschlossen gehalten hatte.
„Erzähl mir, was damals passiert ist, Lily“, drängte er leise. „Erzähl mir von ihm … von Anton.“
Sie sah ihn an, als bemerke sie seine Anwesenheit erst jetzt. „Ich kann nicht. Du würdest mir sowieso nicht glauben. Du hältst mich doch für eine Lügnerin.“
„Ich werde dir glauben“, versicherte er. „Du hast gesagt, du bist durch deinen Vater in Kontakt mit ihm gekommen?“
„Ja, Anton ist der Besitzer einer Zeitschrift, die meinem Vater damals regelmäßig Aufträge gab. Er ist oft ins Studio gekommen. Ich mochte ihn nicht, irgendetwas hatte er an sich …“ Sie schloss die Augen, versuchte vergeblich, die Bilder von damals zu verdrängen. „Er hat es gemerkt, und es hat ihn amüsiert. Es machte ihm Spaß, mich einzuschüchtern. Und ich hatte wirkliche Angst vor ihm, hatte Albträume von ihm, wie er mich ständig angesehen hat …“
Marco schluckte die aufsteigende Wut hinunter. „Was war mit deinen Eltern? Wo war deine Mutter?“
„Meine Mutter war damals schon tot, und meine Stiefmutter hatte meinen Vater verlassen und Rick mitgenommen. Ich war die meiste Zeit im Internat, aber die Ferien habe ich bei meinem Vater verbracht.“
„Hast du ihm denn nichts davon gesagt?“
„Das konnte ich nicht, er hätte es nicht verstanden. Er … Du hast doch gehört, was Melanie gestern über ihn gesagt hat. Eigentlich hat er nie Kinder gewollt.“
Möglich, aber da der Mann nun mal eine Tochter gehabt hatte, wäre es auch seine Pflicht gewesen, sie zu beschützen.
Als hätte Lily seine düsteren Gedanken gelesen, fügte sie hastig an: „Die beiden waren Freunde, und mein Vater arbeitete ja auch für ihn. Zu der Zeit lieferte mein Vater die Fotos für mehrere Hochglanzmagazine. Die Leute, mit denen er zusammen war … nun, am besten lässt sich ihr Lebensstil wohl mit ‚Sex, Drugs & Rock’n’Roll‘ bezeichnen.“
„Und Anton gehörte zu dieser Gruppe?“
„Ja, auch heute noch. Er ist ein sehr reicher und einflussreicher Mann in der Modewelt. Eine Kommission von ihm ist das Sprungbrett zum sicheren Erfolg. Genau, wie er auch die Karriere eines jeden Fotografen zerstören kann. Und mein Vater … mein Vater lebte für seine Arbeit, er war ein Genie auf seinem Gebiet. Er konnte sehr ungeduldig werden, wenn ihm jemand bei seiner Arbeit im Weg war.“
„Das heißt also, er hatte wenig Zeit für seine Familie?“, vermutete Marco.
„Meine Stiefmutter konnte besser mit ihm umgehen als meine Mutter, aber auch sie hatte schließlich genug. Rick, mein Halbbruder, sieht unseren Vater noch heute als Vorbild an und will ihm unbedingt nacheifern, aber er kannte ihn auch nicht so gut wie ich. Rick sagt immer, es sei unfair, dass unser Vater mir beigebracht hat, mit der Kamera umzugehen, aber gestorben ist, bevor er es ihm beibringen konnte. Nun, es wäre unmöglich für mich gewesen, es nicht zu lernen.“
„Dein Vater und Anton waren also Freunde?“, hakte Marco nach.
„Ja. Ich weiß noch, in jenem Sommer war er ständig in unserem Studio. Ich war vierzehn … Als Dad einmal unterwegs war, wollte Anton Nacktfotos von mir machen. Ich habe mich geweigert. Und ich sehe Dad noch heute vor mir,
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