Julia Extra Band 0350
wirkte mitgenommen und erschüttert. Dennoch hielt sie sich würdevoll, als sie sich von ihm abwandte, sichtlich entschlossen, mit ihren Gefühlen allein fertig zu werden. Sie sah schrecklich einsam aus, und er wusste, wie sich das anfühlte. Wusste genau, wie das Herz nach jedem allein durchgestandenen Kampf immer härter und gefühlloser wurde …
Impulsiv wollte er auf sie zutreten, doch all die Jahre, die er seine Instinkte und Impulse schon unterdrückte, hielten ihn davon ab. Die rebellische innere Stimme drängte ihn, aber die Angst ließ es nicht zu. Die Angst davor, getäuscht und betrogen zu werden. Und mit einem Mal kam aus dem Nichts die Erkenntnis, dass Lily so etwas nicht tun würde.
Die Welt, so wie Marco sie bisher kannte, kam abrupt zum Stillstand. Er sah sich plötzlich etwas Gigantischem gegenüber. Lily. Sie hatte sich um Hilfe an ihn gewandt, hatte darauf vertraut, dass er ihr helfen würde. Vertrauen war ein so seltenes Geschenk, und Lily hatte ihm dieses Geschenk gemacht. Sollte er sich da nicht revanchieren, indem er ihr sein Vertrauen schenkte? Nein, er konnte seine Schwachstellen niemandem anvertrauen. Er traute sich ja selbst nicht, deshalb hatte er seine Gefühle auch immer unter sicherem Verschluss gehalten.
Die Hupe eines vorbeifahrenden Wagens holte ihn in die Realität zurück. Er hatte vor einer Entscheidung gestanden, und fast hätte er den falschen Weg gewählt. Doch die drohende Gefahr war gebannt, er konnte sich wieder praktischen Überlegungen zuwenden. Das war wesentlich einfacher, als über Gefühle nachzudenken.
Eigentlich hatte Marco vorgehabt, mit Lily eine der Seidenwebereien zu besichtigen, da sie für diesen Tag keine weiteren Termine mehr hatten, doch dazu wäre sie in ihrem jetzigen Zustand gar nicht fähig. Sie fuhren zur Villa der Herzogin zurück, damit Lily sich wieder sammeln konnte.
Die Herzogin war ausgegangen, um Freunde zu besuchen, und Lily protestierte nicht, als Marco vorschlug, dass sie in der Suite ein wenig ausruhte. Während der Rückfahrt hatte sie kein einziges Wort gesagt, hatte nur steif und angespannt auf dem Beifahrersitz gesessen, und Marco hatte gesehen, dass sie noch immer zitterte.
Sie ließ sich von ihm über den Korridor zur Suite führen, doch als er sich aus dem Schlafzimmer zurückziehen wollte, bat sie mit flehender Stimme: „Bitte, bleib. Lass mich nicht allein.“
„Von nun an bist du in Sicherheit, Lily“, erwiderte er. „Er wird sich nicht mehr bei dir melden. Es sei denn, du bittest ihn darum.“
„Anton bitten, zu mir zu kommen?“ Sie erschauerte. „Niemals!“
„Irgendetwas muss dir einmal an ihm gelegen haben.“ Die kühle Bemerkung entstammte seiner Verweigerung, zu vertrauen, und folgte der Stimme des Verstandes, die ihm sagte, dass er seine Wachsamkeit schon viel zu weit heruntergefahren hatte. Ein Fehler, den er korrigieren musste, solange es noch möglich war. Als er Lily jedoch zusammenzucken sah, meldete sich sofort sein schlechtes Gewissen.
„Nein, nie“, entgegnete sie tonlos. „Von Anfang an mochte ich ihn nicht. Aber er war ein Freund meines Vaters, daher war es unmöglich, ihm aus dem Weg zu gehen.“
Ein Freund ihres Vaters? Das war eine neue Information, und sogar die Stimme des Verstandes musste akzeptieren, dass das ein völlig anderes Licht auf die Sache warf. Dennoch verstummte diese Stimme nicht, sondern drängte ihn dazu, zu insistieren …
„Und dennoch wart ihr ein Paar.“
9. KAPITEL
Lily sah Marco schockiert an. Seine Worte brachten Erinnerungen zurück, die auch den letzten Rest ihrer Fassung hinwegfegten. Schon so lange schwieg sie und trug die Last allein, doch jetzt konnte sie den Schmerz nicht mehr aushalten.
„Nein!“, rief sie aus. „Ich hätte mich nie von ihm anrühren lassen!“ Sie erschauerte. „Ich hasste ihn, verachtete ihn.“ Die Worte sprudelten jetzt aus ihr heraus. „Er sagte diese Dinge … verschlang mich mit seinen Blicken … dabei wusste er genau, wie sehr ich ihn verabscheute. Er sagte immer, irgendwann würde er bekommen, was er wollte. Weil ich ihn nicht aufhalten könnte. Wenn ich ihm sagte, dass ich es meinem Vater erzählen würde, lachte er nur. Ich war vierzehn, und mein Vater …“ Ein heftiges Beben durchlief sie und ließ sie verstummen.
Jedes ihrer Worte traf ihn wie ein Dolchstoß. Die ganze Zeit über, während er sich geweigert hatte, ihr zu glauben oder zu vertrauen, war sie von ihrem Peiniger gequält worden.
Ganz neue Gefühle und
Weitere Kostenlose Bücher