Julia Extra Band 359
sie riskierte und sich freiwillig in die Hand eines zweifellos grausamen Warlords begab, der nicht zögern würde, ihn zu töten.
Plötzlich stutzte sie. Was hatte Harun da gerade gesagt? „Bruder Nummer drei? Wie kommst du auf diese Formulierung?“
„Ah, du erinnerst dich? Na ja, kein Wunder, du warst natürlich zu sehr damit beschäftigt, dich um Alim zu sorgen.“ Er hob spöttisch die Brauen. „Deine roten Wangen verraten dich, meine Liebe. Du musst lernen, deine wahren Gefühle besser zu verstecken.“
Sie funkelte ihn wütend an. „Gerade erfahre ich, dass dein Bruder irgendwo in Afrika als Geisel festgehalten wird. Und da soll ich mir keine Sorgen machen?“ Oh, wie sie Haruns demonstrativ zur Schau gestellte Gleichgültigkeit hasste! In diesem Moment hätte sie ihn am liebsten geschlagen. „Also, wirst du mir jetzt bitte deine geheimnisvolle Andeutung erklären?“
„Du kommst schon noch selbst darauf, Amber. Streng dich ein bisschen an … Oder vielleicht auch nicht. So wichtig war es sicher nicht für dich.“
„Ich habe keine Ahnung, was du meinst.“
Wortlos suchte Harun ihren Blick, aber was immer er zu entdecken gehofft hatte, suchte er anscheinend vergeblich. Ein plötzliches Verlustgefühl erfasste sie und erfüllte sie mit einer bittersüßen Schwermut.
Bevor sie weiterfragen konnte, sagte Harun: „Übrigens, heute Nachmittag wirst du für einen Fernsehauftritt gebraucht, halte dich also bitte bereit. Ein kurzes Statement nach dem Motto: Wir sind unendlich erleichtert, dass Alim lebt, und natürlich bereit, das volle Lösegeld zu zahlen.“
Sie neigte leicht den Kopf, entgegnete aber ironisch: „Natürlich stehe ich zu deiner Verfügung. Präsentiere ich mich nicht immer als perfekte Ehefrau, zumindest vor der Kamera? Denn zu irgendetwas muss ich ja zu gebrauchen sein. Sonst hättest du dich wohl kaum so lange mit mir und meiner unfruchtbaren Gegenwart belastet.“
Ein harter Zug erschien um seinen Mund, doch seine Stimme klang sanft, als er erwiderte: „Ja, meine Liebe, du bist perfekt. Vor der Kamera.“
Ohne ein Wort des Abschieds verließ er die Suite. Kaum war er gegangen, da begriff Amber, was er mit seiner rätselhaften Bemerkung gemeint hatte.
Bruder Nummer drei.
Oh nein, war es etwa Harun gewesen, der das unselige Gespräch nach Fadis Tod zwischen ihr und ihrem Vater belauscht hatte? Dann wusste er, wie sehr sie sich gegen eine Heirat mit ihm gesperrt hatte – und er wusste von ihrer Schwärmerei für Alim.
Jetzt verstand sie alles, das Puzzle fügte sich zusammen. Seine Zurückweisung in der Hochzeitsnacht, seine Gleichgültigkeit, die Weigerung, zumindest Freundschaft mit ihr zu schließen.
Es war gar nicht so, wie sie unterstellt hatte – dass er sie um ihrer selbst willen verabscheute. Nein, er war damals zu ihr gekommen, und sie hatte mit ihren bitteren Worten alles verdorben, zerstört, was hätte sein können. Sie hatte Harun in einer Zeit im Stich gelassen, als er sie am meisten gebraucht hätte – eine Frau, eine Freundin an seiner Seite, die die Bitterkeit seiner Trauer milderte und die Last der plötzlichen Verantwortung mit ihm teilte.
Sie hatte auf ganzer Linie versagt.
Kein Wunder, dass er sie nie angerührt, nie versucht hatte, mit ihr zu schlafen. Nicht einmal in jener Nacht, als sie ihren Stolz vergessen und ihn aufgefordert hatte, ihr wenigstens ein Kind zu schenken, damit ihr nicht länger der Makel der Unfruchtbarkeit anhaftete.
Leise stöhnend schlug sie die Hände vors Gesicht. Konnte sie den Schaden jemals wiedergutmachen? Würde Harun ihr je verzeihen?
Am nächsten Tag wollte Harun gerade den Regierungs-Jet besteigen, als er eine leicht atemlose Frauenstimme hinter sich hörte. Er erstarrte. Die Stimme einer Frau, die seinen Puls beschleunigte, sosehr er sich auch dagegen wehrte.
Sie ist deine Frau, aber sie erträgt dich nicht. Sie liebt deinen Bruder, jetzt umso mehr, da sie weiß, dass er am Leben und der Held des Tages ist.
Es war immer wieder derselbe Kampf, dasselbe lächerliche Verlangen. Nichts hatte sich geändert. Wie sehr er sich dafür verachtete, dass er sein Begehren nicht bezwingen konnte.
Doch, du schaffst es. Du hast es die letzten drei Jahre ja auch geschafft!
Fragend drehte Harun sich zu Amber um, die aus der schwarzen Staatslimousine gesprungen war und jetzt die Gangway hinter ihm her hinaufeilte. In ihren großen Augen lag ein Ausdruck, den er noch nie darin gesehen hatte. „Harun, ich würde dich gerne
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