Julia Extra Band 361
Verzweiflung hatte Caro dazu getrieben. Sie sah in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie war an einer Tankstelle vorbeigefahren, als sie törichterweise beschlossen hatte, die Autobahn zu verlassen, da die Straßenverhältnisse dort immer schlechter geworden waren. Das war vor fünf oder sechs Kilometern gewesen. Sie trug Stiefel, aber das weiche Leder und die sieben Zentimeter hohen Absätze waren nicht für dieses Wetter gedacht, schon gar nicht für eine anstrengende Wanderung.
Sie schaute in die andere Richtung. Was mochte sie auf dem Weg, den sie eingeschlagen hatte, noch erwarten?
Bei ihrem Pech würde sie wahrscheinlich kilometerlang nur Ahornbäume und Schneewehen sehen. Sie hatte den Unfall zwar überlebt, aber aus dem Schlimmsten war sie noch längst nicht heraus. Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihr Atem ging schneller. Was sollte sie bloß tun? Sie hatte einen Termin einzuhalten.
Mit einem Mal meinte Caro, in der Ferne das Klingeln von Glöckchen zu vernehmen. Wahrscheinlich ist es nur der Wind, dachte sie. Doch einen kurzen Moment später erschien hinter der Kurve ein Mann auf einem Pferd. Die Krempe seines Huts war voller Schnee, ebenso die breiten Schultern, die in einem schweren Wildledermantel steckten. Ich muss träumen, dachte Cora. Doch der Mann kam näher, und sie konnte seine markanten Gesichtszüge erkennen: dunkle Augen, kantige Wangenknochen, Bartschatten am Kinn.
Carolines Herz setzte einen Schlag aus, dann gaben ihre Knie nach und sie sank in den Schnee.
Wahrscheinlich bin ich tot, dachte sie.
Nachdem Jake die Frau entdeckt hatte, wischte er sich mit der Hand über die Augen. Bestimmt bilde ich es mir nur ein, dachte er. Keine Frau würde sich bei diesem fürchterlichen Wetter freiwillig draußen aufhalten. Er selbst war nur deshalb hinausgestürmt, weil er seine Wut hatte abreagieren müssen. Und er hatte das Pferd mitgenommen. Die alte Bess kannte den Weg ins sichere Zuhause besser als er.
Als er sah, wie die Frau zusammenbrach, sprang er aus dem Sattel und kämpfte sich durch den knietiefen Schnee zu ihr. Er hockte sich neben sie und widerstand dem Wunsch, sie in die Arme zu nehmen.
Dein Freund und Helfer.
Es war eine Ewigkeit her, da war das sein tägliches Brot gewesen. Jetzt nicht mehr.
„Hallo, hören Sie mich?“ Seine scharfe Stimme schnitt wie ein Messer durch die kalte Luft. „Geht es Ihnen gut?“
Sie starrte ihn aus glasigen Augen an. Angst lag in ihrem Blick. Es war nicht das erste Mal, dass Menschen so auf ihn reagierten. Er kannte diesen Blick aus langjähriger Berufserfahrung.
Aber dann tat sie etwas, dass ihn direkt ins Herz traf. Sie hob eine zitternde Hand an seine Schläfen und fragte: „Sind Sie ein Engel?“
Die Frage überraschte ihn. Man hatte Jake in den letzten Jahren eine Menge Namen verpasst. Engel war nicht dabei gewesen.
„Nein, kein Engel.“
„Ich dachte, …“
„Sind Sie verletzt?“
Sie runzelte die Stirn. „Ich glaube, nicht.“
„Und Sie haben sich auch nicht den Kopf gestoßen?“
Er sah zum Auto und entdeckte den schlaffen Airbag. Er hatte sie vor einem stärkeren Aufprall geschützt, was allerdings nicht hieß, dass sie keine inneren Verletzungen davongetragen hatte.
„Mir geht es gut“, beharrte sie. Als ob sie ihre Aussage unter Beweis stellen wollte, rappelte sie sich mühsam auf.
Jake stand ebenfalls auf. Die Frau war größer als erwartet, wenn man ihre zierliche Erscheinung bedachte. Nicht zierlich, entschied er. Zart . Das war ein erheblicher Unterschied.
Ihr Scheitel reichte bis eben an seine Nase heran. Im hohen Schnee waren ihre Füße nicht zu sehen. Aber Jake konnte schwören, dass sie unpraktisches, hochhackiges Schuhwerk trug, das zu ihrer modischen, aber unzweckmäßigen Kleidung passte. Was für ein Glück, dass er im rechten Moment aufgetaucht war. Allein hätte sie wohl keine weitere Stunde durchgehalten.
Die Menschen brauchen dich, Jake.
„Mit meinem Auto sieht es allerdings anders aus“, sagte sie. „Ich bin mir nicht sicher, wie groß der Schaden ist, aber es muss abgeschleppt und repariert werden.“
Die Menschen zählen auf dich, Jake.
Er verdrängte den Gedanken und betrachtete das kleine Fahrzeug. Wahrscheinlich verbrauchte es nur wenig Benzin, aber das war auch alles, was für das Auto sprach. Schroffer als beabsichtigt, sagte er: „Das nennen Sie ein Auto? Es sieht eher wie ein Spielzeug aus.“
Die Frau lachte, aber es klang eher hysterisch als fröhlich. Wenn er nicht
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