Julia Extra Band 361
aufgekreuzt wäre, hätte sie wohl nicht einmal mehr eine halbe Stunde durchgehalten.
„Wie dem auch sei. Wissen Sie, ob es eine Werkstatt in der Nähe gibt? Und ein Telefon? Mein Handy hat hier kein Netz, und ich muss den Abschleppdienst anrufen.“
„Sie können vom Gasthof aus telefonieren.“
Sie seufzte erleichtert auf. „Es gibt einen Gasthof in der Nähe?“
Er nickte. „Die Straße hinunter, in etwa 800 Metern Entfernung.“
„Wissen Sie, ob noch ein Zimmer frei ist?“ Sie griff nach seinem Arm. „Bitte sagen Sie ja.“
Jake schluckte, als er in zwei haselnussbraune Augen blickte. „Ich bin sicher, es ist noch etwas frei.“
In Wahrheit war der Gasthof nur noch ein Schatten seiner selbst. Genau wie der Mann, der ihn vor ein paar Monaten gekauft hatte. Der Gasthof hatte eigentlich geschlossen, aber an diesem Osterwochenende waren tatsächlich Gäste gekommen. Jakes gesamte Familie hatte ihm einen Überraschungsbesuch abgestattet. Und das war der Grund, warum er sich bei dem heftigen Schneesturm draußen aufhielt.
Seine Eltern, sein Bruder, seine Schwägerin und ihre beiden Kinder waren am Tag zuvor unangemeldet aufgetaucht. Keine 24 Stunden später hatte er sich mit seinem jüngeren Bruder in den Haaren gelegen. Er war lieber aus dem Haus gelaufen, als etwas zu sagen, was er später bereuen würde.
„Gott sei Dank“, sagte die Frau. „K…könnten Sie mich vielleicht hinbringen?“ Ihr Blick fiel auf das Pferd. Bess wartete geduldig ein paar Meter abseits. Normalerweise wurde das Tier eingesetzt, um den großen Pferdeschlitten zu ziehen. Jake hatte es beim Kauf des Hauses als Dreingabe erhalten.
„Natürlich.“
Er klang nicht sonderlich glücklich. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass es ihr nicht entgangen war.
„Sie haben gesagt, dass es nur 800 Meter sind. I…ich kann hinlaufen.“ Sie machte einen unbeholfenen Schritt im Schnee.
„Sicher.“ Seine Stimme klang abfällig. „Mit dieser Kleidung können Sie froh sein, wenn Sie sich nicht schon nach einem Meter zu Tode frieren.“
Sie drehte sich aufgebracht zu ihm um. Ihre haselnussbraunen Augen funkelten wütend, und die rote Farbe ihrer Wangen rührte nicht nur vom bitterkalten Wind her. „Ich bin nicht hilflos! Ich komme gut allein zurecht!“
Die Worte hallten von den Ahornbäumen wider. Schnee fiel von den Zweigen. Vielleicht ist sie nicht hilflos, dachte Jake. Aber sie war ganz bestimmt verzweifelt. Er hatte diesen Gesichtsausdruck bei Menschen gesehen, deren Angehörige in den Drogenhandel verstrickt waren. Bei jenen Menschen hatte er genau gewusst, was ihnen Kummer bereitete. Aber welchen Grund hatte eine Frau, die ihrem Äußeren nach mit dem schönen Leben der Reichen vertraut war, verzweifelt zu sein?
Er verdrängte die Frage und den alten Wunsch zu helfen. Es geht mich nichts an . Jake hatte sich offiziell vom Heldengeschäft verabschiedet. Allerdings hatte man ihm keine andere Wahl gelassen.
Trotzdem sagte er jetzt: „Kommen Sie, ich helfe Ihnen in den Sattel.“
Die Frau sah unsicher zum Pferd. „Es macht mir wirklich nichts aus, zu Fuß zu gehen.“ Sie klang jetzt weniger stolz als ängstlich.
„Aber mir. Dann werden wir nämlich mindestens doppelt so lange unterwegs sein.“ Seine Stimme klang jetzt etwas sanfter. „Sie müssen keine Angst vor Bess haben. Sie tut nichts.“
Die Frau zeigte zu ihrem Auto. „Was passiert mit meiner Tasche?“
Er musste sich stark zusammennehmen, um nicht die Augen zu verdrehen. „Wie groß ist sie?“
„Ich rede nicht von meinem Gepäck auf dem Rücksitz. Ich brauche nur meine Kulturtasche. Sie liegt auf dem Beifahrersitz.“
Beim Blick durch das Fenster verzog er das Gesicht. Die Tasche war immerhin so klein, dass sie auf einem Flughafen als Handgepäck durchgegangen wäre. Aber da ihre Reise auch ohne zusätzliches Gepäck recht heikel war, sagte er: „Ich werde sie später holen.“
Er hatte erwartet, dass sie widersprechen würde. Stattdessen stapfte sie durch den Schnee zum Pferd. Obwohl der Wind heulte, konnte Jake den Singsang hören, mit dem sie sich Mut machte: „Ich schaffe das, ich schaffe das.“
Er half ihr in den Sattel, dann schwang er sich hinter ihr aufs Pferd. Bess machte einen nervösen Schritt zur Seite, da sie es nicht gewohnt war, überhaupt einen Reiter auf ihrem Rücken zu tragen, ganz zu schweigen von zweien. Jake konnte gut nachvollziehen, wie sie sich fühlte. Er war es gewohnt allein auf einem Pferd zu reiten und keine schöne Fremde
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