Julia Extra Band 361
„Ich bin sechs und habe einen Wackelzahn. Willst du mal sehen?“
Ohne die Antwort abzuwarten, öffnete Jillian den Mund und wackelte mit der Zunge an einem Schneidezahn.
„Jilly“, ermahnte die Frau, die mit Jakes Bruder und dem älteren Mann auf Caro zugekommen war. Sie sah Caro verlegen an. „Bitte entschuldigen Sie.“
„Das macht gar nichts. Für ein Kind ist ein loser Zahn etwas Aufregendes.“
Jake räusperte sich. „Caro, darf ich vorstellen: meine Schwägerin Bonnie und mein Bruder Dean. Jillian kennen Sie ja schon. Und das ist ihr Bruder Riley.“
„Ich bin fast fünf“, verkündete Riley, wobei er die entsprechende Zahl Finger in die Luft hielt.
Jillian verdrehte die Augen. „Er ist letzte Woche vier geworden.“
Nur Kinder haben es mit dem Älterwerden eilig, dachte Caro. Sie bückte sich, um die kleine Hand zu nehmen. „Schön dich kennenzulernen, Riley.“
Als der Junge lächelte, sah Caro die entzückenden Grübchen in seinen Wangen. Genau wie Cabot .
„Und das ist mein Vater Martin McCabe“, sagte Jake.
„Freut mich sehr, Mr McCabe.“ Ihre Hand verschwand fast in der mächtigen Pranke von Jakes Vater.
„Mich ebenfalls.“
Doreen kam ins Zimmer, sie trug einen Stapel Handtücher. Caro wurde bewusst, dass sie schlimm aussehen musste. Truman und seine Mutter wären entsetzt, wenn sie Caro gesehen hätten: Sie stand neben lauter Fremden und sah wie aus dem Wasser gezogen aus. Allerdings hätten die Wendells auch niemals mit Leuten wie den McCabes verkehrt. Die McCabes gehörten nicht zu der Sorte Snobs, die sich bei steifen Abendgesellschaften über Investmentfonds unterhielten und sich darüber das Maul zerrissen, welcher ihrer Bekannten an der Börse keinen großen Reibach gemacht hatte.
Die McCabes sind wie meine Eltern, dachte Caro: bodenständige Familienmenschen. Bei dem Gedanken erschauderte sie.
„Du liebe Güte! Sie zittern ja. Setzen Sie sich ans Feuer!“, rief Doreen. „Martin, leg noch einen Scheit auf. Dean, hol dem armen Mädchen die Wolldecke.“
Sie musterte Caro von oben bis unten. „Bonnie hat bestimmt etwas zum Anziehen für Sie, auch wenn Sie etwas größer sind.“
„Bitte machen Sie sich wegen mir keine Umstände. Ich will Ihnen nicht zur Last fallen.“
„Warum sind Sie dann bei einem Schneesturm unterwegs?“, fragte Jake.
Caro richtete sich kerzengerade auf. „Ich habe einen dringenden Termin.“
„Aber nicht bei einem Sturm.“
„Sturm hin oder her, er ist wichtig!“
„So wichtig kann nichts auf der Welt sein“, gab Jake zurück.
„Doch.“ Caro musste an Cabot und Trumans Bedingungen denken und schluckte schwer. „Ich habe … einen Termin einzuhalten.“
„Arbeit?“ Er schnaubte verächtlich. „Sie haben Ihr Leben für die Arbeit riskiert?“
Sollte er doch denken, was er wollte. „Im Gegensatz zu Ihnen war ich nicht auf einem Pferd unterwegs.“
Jake sah sie mit offenem Mund an, dann presste er die Lippen zusammen. Dean verkniff sich ein Lachen. Caro bemerkte, dass die übrigen Familienmitglieder ihre Schlagfertigkeit durchaus amüsant fanden. Trotzdem war es ihr peinlich, dass sie sich nicht gut benommen hatte.
„E…es tut mir leid.“
Jake entspannte sich. „Sagten Sie nicht, dass Sie das Telefon benutzen wollen?“
„Ja, mein Handy hat keinen Empfang.“
„Kommen Sie.“
Doreen legte Caro die Decke um die Schultern. „Keine Angst“, flüsterte sie, „mein Sohn bellt zwar, er beißt aber nicht.“
Da Caro nicht wusste, was sie von dieser Bemerkung halten sollte, lächelte sie bloß.
Jake wartete neben dem Empfangstresen in der Nähe des Eingangs. Eine kleine Messinglampe beleuchtete ein vergilbtes Gästebuch. Das Telefon schien noch aus dem vorletzten Jahrhundert zu stammen, es hatte eine Wählscheibe und einen klobigen schwarzen Hörer.
„Es ist ein Ferngespräch“, sagte sie.
„Kein Problem.“ Er schob ihr das Telefon hin.
„Ich erstattete Ihnen die Gebühren natürlich.“ Wenn man an den Zustand des Gasthofes dachte, konnte er das Geld sicherlich gebrauchen.
„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen“, erwiderte Jake.
Jake ließ sie allein. Er war wütend. Das lag allerdings nicht an Caro, obwohl sie bei dem Wetter besser zu Hause geblieben wäre, als mit dem Auto herumzufahren.
Und das nur wegen ihrer Arbeit!
Jake war wütend auf sich selbst. Warum benehme ich mich nur so? fragte er sich. Und warum hatte Dean sich in seine Angelegenheiten gemischt und alte Wunden aufgerissen, die
Weitere Kostenlose Bücher