Julia Extra Band 365
ist noch nicht alles. Ich habe dem Patienten ein Versprechen gegeben, von dem ich nicht sicher bin, ob ich es noch halten kann. Er wollte nicht, dass ich berichte, was genau ihm zugestoßen ist. Er wollte, dass ich einem ihm nahestehenden Menschen Mut mache, in die Zukunft zu blicken, nicht in die Vergangenheit. Und ich weiß nicht, ob ich richtig handele, wenn ich verschweige, was tatsächlich geschehen ist.“ Brody war einen Moment lang still, dann sah er zu ihr. „Wenn du dieser Mensch wärst, was würdest du wollen?“
Kate überlegte. „Ich weiß nicht genau“, antwortete sie schließlich. „Zum Teil habe ich das Gefühl, dass ich seit Andrews Tod endlich einen Schritt vorwärts gemacht habe. Wenn ich jetzt mehr über seinen Tod erfahren würde, wäre es für mich wieder so schlimm wie an dem Tag, als man mir davon berichtet hat. Und das will ich nicht noch einmal durchmachen. Ich bin gerade dabei, mich von meiner lähmenden Trauer zu befreien.“
„Du meinst also, es wäre besser, nicht alles zu wissen?“
„Wenn es um mich geht, so wie es jetzt ist, würde ich das bejahen“, antwortete sie ernst. „Vielleicht sehe ich es später einmal anders, wenn mehr Zeit vergangen ist.“
„Danke für deine Offenheit, Kate. Ich werde mir deine Worte durch den Kopf gehen lassen.“ Brody wandte sich ab und sah wieder durchs Fenster.
Das Gespräch über das, was ihn so merklich belastete, war damit zu Ende.
Ohne dass sie jetzt wirklich mehr wusste.
Die Sonne ging gerade unter und tauchte den Boston Harbour in goldenes Licht, die Wolkenkratzer waren wie mit Heiligenscheinen gekrönt.
„Ist das nicht eine faszinierende Stadt?“, fragte Kate. „Im Winter denke ich immer, ich ziehe nach Kalifornien oder Florida, wo es nicht schneit. Aber dann merke ich, dass ich Boston vermissen würde. Die Stadt hat etwas Magisches. Einen ganz eigenen Zauber.“
„Ja, das finde ich auch. Ich kenne einiges von der Welt, aber Boston liebe ich einfach. Trotz des Wetters … und des Verkehrs.“
Kate lachte. „Ja, auf die Staus könnte ich verzichten. Meine Großeltern mögen sie. Sie meinen, dann haben sie mehr Zeit für sich, so allein hier im Lieferwagen. Die beiden sind immer noch die reinsten Turteltauben – mit über achtzig Jahren!“
„Wie schön! Ich glaube, jeder hofft, die wahre Liebe zu finden, die ein Leben lang dauert. Meine Großeltern hatten das Glück, meine Eltern nicht.“ Brody seufzte wehmütig. „Die haben ständig abwechselnd gestritten und sich leidenschaftlich versöhnt. Sie waren sehr gegensätzliche Charaktere, die nie harmonierten, konnten aber nicht voneinander lassen.“
„Erst springt der Funke über, dann sprühen die Funken“, fasste Kate es zusammen, die Ähnliches von ihren Eltern kannte. „Wobei Feuerwerk ja nicht grundsätzlich schlecht ist.“
Seit sie Brody kannte, hatte sie nämlich ständig das Gefühl, in ihr würden Raketen in einem Sternenregen explodieren. Immer, wenn er sie anlächelte. Wenn er sie wie zufällig berührte. Und als er sie vorhin geküsst hatte!
Aber Feuerwerk allein war keine Grundlage für eine Beziehung. Das durfte sie nie vergessen.
„Ist es das, wovon du träumst?“, fragte Brody. „Feurige Liebe und absolutes Glücklichsein, auch inmitten eines Staus?“
„Den Traum habe ich vor Langem aufgegeben. Meine Eltern waren wie deine: Bei ihnen gab es nur Funken, keine stetige Glut. Mitanzusehen, wie ihre Ehe allmählich in die Brüche ging, hat mir die Hoffnung genommen, dass ich jemals den Richtigen für mich finde.“
„Und wie müsste der sein?“, wollte Brody wissen.
„Bewirbst du dich etwa für den Job?“, fragte sie zurück und lächelte, um zu signalisieren, dass das natürlich nur ein Scherz war.
Obwohl sie nach dem Kuss vorhin insgeheim hoffte, seine Antwort wäre Ja.
„Nicht, solange ich nicht weiß, welche Qualifikationen gefragt sind.“
„Also, ich glaube, Andrew war für mich immer der Maßstab dafür, was einen guten Mann ausmacht. Er war klug, witzig, engagiert und mutig. Loyal, verlässlich und ehrlich. Man konnte ihm blind vertrauen. Er hat mich immer unterstützt, obwohl ich die Ältere war. Von mir brauchte er keine Unterstützung.“
„Er klingt tatsächlich perfekt“, meinte Brody versonnen.
„Nein, perfekt war er nicht. Andrew konnte auch ausrasten. Als wir noch klein waren, haben wir mal wegen eines Spielzeugs gezankt. Da hat er mir in seiner Wut so einen Fausthieb versetzt, dass ich ein blaues Auge hatte. Das
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