Julia Extra Band 366
jemals erlebt hatte.
Also war sie möglicherweise nicht durch und durch verdorben. Egal, es war nicht seine Aufgabe, einen besseren Menschen aus ihr zu machen. Er hatte seinen Bruder zu retten.
Sein spöttischer Ton war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Lucy verlor die Beherrschung. „Ich kann meine Rechnungen selbst bezahlen. Glauben Sie, mir liegt so viel an dem Kleid? Ich …“ Zu ihrem Entsetzen stiegen ihr Tränen in die Augen. „Ich gehe mich waschen!“, stieß sie hervor und stürzte zur Tür.
5. KAPITEL
Draußen in der prunkvollen Eingangshalle hatte sich Lucy so weit gefasst, dass sie fragen konnte, wo die Gästetoilette war, als sich ihr ein Angestellter näherte.
In dem luxuriös ausgestatteten Badezimmer drehte sie den Wasserhahn auf, hielt die Hände unter das laufende Wasser und wartete so lange, bis sie sich nicht mehr einfach nur die Augen ausweinen wollte.
Nachdem sie ein bisschen ruhiger geworden war, betrachtete sie sich im Spiegel über dem Marmorwaschbecken. Die Beleuchtung betonte, wie blass sie war. Sie hatte nicht einmal ihre Handtasche dabei und konnte deshalb ihr Make-up nicht auffrischen.
Seufzend machte sich Lucy daran, mit einem Papiertuch die Blutflecken von ihrer Haut und vom Kleid zu wischen.
Danach stand sie mit dem Rücken an der kühlen Wand und versuchte zu analysieren, warum sie so in die Luft gegangen war. Was ist eigentlich dein Problem, Lucy? fragte sie sich. Santiago Silva sollte doch glauben, dass ihr Designerkleider wichtiger waren als Menschen. Also warum hatte sie so reagiert?
Sie wusste nicht, wie lange sie schon dastand, als es zaghaft klopfte.
„Ist alles in Ordnung mit dir, Lucy?“
Sie atmete tief durch, dann öffnete sie die Tür. Ramon sah besorgt aus. „Mir geht es gut.“ Sie trat hinaus in die Eingangshalle. „Das eben tut mir leid, aber ich komme mit deinem Bruder nicht zurecht. Ich kann das nicht … Im Lauf der Jahre habe ich mir ein dickes Fell zugelegt, aber er bringt es irgendwie fertig … Ich habe es satt, dass immer alle nur schlecht von mir denken.“
Ramon nahm sie in die Arme und drückte Lucy tröstend an sich. „Nein, ich bin schuld. Ich hätte dich nicht darum bitten sollen. Es ist mein Problem, nicht deins. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Santiago so …“ Ramon ließ Lucy los und trat einen Schritt zurück.
Sie zuckte mit den Schultern. „Und du dachtest, ich kann es aushalten? Das dachte ich auch. Mir ist gleichgültig, was dein Bruder von mir hält“, versicherte sie Ramon schnell. „Aber mir ist der Spaß vergangen, als er angefangen hat, abfällige Bemerkungen über meine Familie zu machen.“
„Dafür habe ich volles Verständnis“, sagte Ramon. Er streckte die Hand aus und berührte ihre Stirn. „Das wird ein blauer Fleck. Du hast dir wirklich doll den Kopf gestoßen.“
Santiago stand auf der Galerie, den Blick starr auf das Paar unten in der Halle gerichtet. Angespannt horchte er auf ihre leisen Stimmen. Die Worte konnte er nicht verstehen, doch das war auch nicht nötig, um zu erkennen, wie vertraut die beiden miteinander umgingen.
Als sein Bruder zärtlich ihr Gesicht berührte, atmete Santiago scharf ein und wandte sich ab.
„Ich versuche, meine Rolle zu spielen“, versprach Lucy. „Aber das war’s dann. Nach heute Abend ist Schluss.“ Ängstlich kehrte sie mit Ramon ins Esszimmer zurück. Der Rest des Dinners verlief allerdings ohne Zwischenfälle. Ihr Gastgeber hatte offensichtlich keine Lust, Konversation zu treiben. Was eigentlich hätte angenehm sein sollen, nur war es das nicht.
Lucy war sich bewusst, dass er sie beobachtete, und wartete die ganze Zeit darauf, dass er plötzlich loslegte. Und wie immer, wenn sie nervös war, redete sie fast ununterbrochen. Bis sie von ihrem eigenen munteren Geplauder Kopfschmerzen bekam. Hinterher hatte sie keine Ahnung, wovon sie gesprochen hatte. Was wahrscheinlich nur gut war.
Santiago entschuldigte sich, bevor der Kaffee serviert wurde. Seine Abwesenheit nutzte Lucy, um selbst in aller Eile aufzubrechen. Draußen atmete sie tief die frische Abendluft ein. Ihr war fast schwindlig vor Erleichterung, dass die Tortur ein Ende hatte.
Hinter ihr blieb Ramon stehen und sprach mit Josef spanisch.
Lucy versuchte, nicht daran zu denken, dass sie aus diesem Schloss und vor Santiago Silva flüchtete. Sie wollte den ganzen Abend einfach vergessen. Früher war sie auch schon beleidigt worden, aber sie hatte sich nie zu einer Reaktion hinreißen
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