Julia Extra Band 366
sein? Ihr kam es wie ein ganzes Leben vor.
Sie hielt dem Tier die Hand hin, wurde jedoch von Ramon zurückgezogen.
„Lass das lieber. Bei Santana weiß man nie, wie er reagiert.“
Bei seinem Herrn auch nicht. Wieder dachte Lucy an den Kuss und erschauerte. In der schlaflosen Nacht danach hatte sie beschlossen, lockerer zu werden. Sie hatte den Kuss nur deshalb wie ein sexhungriges Dummchen erwidert, weil sie es war – sexhungrig jedenfalls. Sie hatte das Leben einer Nonne geführt, und das war nicht normal.
Nicht, dass sie sich bei einer Partnervermittlung anmelden oder an Speed-Datings teilnehmen würde – beides Vorschläge hilfsbereiter Familienmitglieder. Aber sie würde nicht mehr alles tun, um einer möglichen Beziehung aus dem Weg zu gehen. Sie würde Sex haben.
Wenn der Freitagabend irgendetwas bewiesen hatte, dann, dass sie doch eine Libido hatte. Lucy lächelte bitter. Nur schade, dass sie keinen guten Geschmack hatte!
Sie riss sich aus ihren Gedanken und hörte Ramon sagen: „… und mag niemanden besonders außer Santiago. Wie wäre es mit Sapphire?“ Ramon zog Lucy zu einer kastanienbraunen Araberstute mehrere Boxen weiter. „Sie ist ein bildschönes Mädchen mit sehr guten Manieren.“
„Sie ist schön“, stimmte Lucy zu und tätschelte das Tier, während ihr Blick wieder zu dem schwarzen Hengst schweifte. „Hast du Santana schon einmal geritten?“
Ramon lachte. „Santiago würde mich umbringen, wenn ich das versuchte. Er teilt nicht. Du kannst wirklich mit Pferden umgehen.“
„Mein Vater hat als Hobby Rennpferde gezüchtet. Er hat mich auf mein erstes Pferd gesetzt, als ich zwei war …“ Lucy sprach nicht weiter, weil Ramon die Hand an die Schläfe legte. „Hast du Kopfschmerzen?“
„Nein, nein, alles bestens … ich muss nur kurz mal …“ Er lächelte angespannt. „Ich bin gleich wieder da. Tomas wird sich inzwischen um dich kümmern.“
Der Pferdepfleger, den Ramon herbeiwinkte, sattelte beide Tiere. Als er bemerkte, dass Lucy sich auskannte, ließ er sie allein.
Sie tätschelte die Stute, die neben Ramons Pferd angebunden war. Wo blieb er denn?
Frustriert schaute Lucy auf ihre Armbanduhr. Wenn er nicht bald zurückkehrte, musste sie auf den Ausritt verzichten. Zwar hatte sie Harriet Sandwiches fürs Mittagessen hingestellt, aber wenn sie zu lange allein war und sich langweilte, würde sie mit den täglich anfallenden Arbeiten auf der Finca anfangen. Wodurch sich der Heilungsprozess wahrscheinlich um mehrere Wochen verzögern würde.
Und wenn ich allein mit Sapphire ausreite …? überlegte Lucy. Sie hörte Santana gegen die Holztür seiner Box treten und ging zu dem unruhig hin und her tänzelnden Hengst.
„Hallo, mein Junge.“ Furchtlos hielt sie ihm die Hand hin, und er kam mit einem Wiehern vorwärts und neigte den Kopf. „Du sehnst dich nach einem schnellen Galopp, stimmt’s? Ich auch. Ich wünschte, ich könnte …“ Warum eigentlich nicht? dachte sie.
Auf die Frage fielen ihr mehrere Antworten ein, dennoch setzte sich die leichtsinnige Idee in ihrem Kopf fest. Als Lucy den Hengst sattelte, hatte sie sich schon eingeredet, dass sie dem Besitzer sogar einen Gefallen tat. Ein so schönes Tier brauchte Bewegung.
Sie zweifelte nicht daran, dass sie mit Santana fertig werden würde. Sie war mit Pferden aufgewachsen, sie war eine sehr gute Reiterin, und sie liebte alle Tiere.
Ihr Selbstvertrauen schien berechtigt, als sie den Weg dorthin einschlug, wo man, wie Ramon ihr vorhin gesagt hatte, großartig über offenes Gelände galoppieren konnte.
„Wir sind ein Internat und kein Gefängnis. Wir ketten die Mädchen nicht an ihre Betten, und unsere Sicherheitsmaßnahmen sind mehr als ausreichend. Aber wenn ein Mädchen weglaufen will … nun, das ist schwer zu verhindern“, sagte die Stimme am Telefon.
Santiago war von der Logik des Direktors nicht beeindruckt und noch weniger von dem, was der Mann für eine angemessene Bestrafung hielt. „Sie wollen eine Schülerin, die wegzulaufen versucht hat, vom Unterricht ausschließen? Heißt das nicht eher, ihr in die Hände zu spielen?“
Das war doch die einzige Lektion, die seine Tochter gelernt hatte: Wenn sie weglief, wurde sie zur Strafe nach Hause geschickt. Und genau dahin war sie unterwegs gewesen, als man sie am Busbahnhof aufgegriffen hatte.
Am Busbahnhof, wo sie Umgang gehabt hatte mit … Santiago ballte die Hände zu Fäusten und verbot sich diesen Gedankengang energisch.
Ihm gefror ja schon das
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