Julia Extra Band 366
dem er sie hier bei ihrem letzten Treffen vor sechs Monaten aus dem Haus geworfen hatte. Der gleiche Ton, in dem er Becca und ihrer Schwester immer gesagt hatte, dass sie Fehler waren. Peinlichkeiten. Bestimmt keine Whitneys. „Diese Ähnlichkeit.“
„Verblüffend.“ Die Augen des fremden Mannes verengten sich und sein Blick blieb auf Becca gerichtet, obwohl er weiter zu ihrem Onkel sprach. „Und ich dachte, du übertreibst.“
Becca schaute ihn an. Da war etwas, was sie schaudern ließ. Ihr Mund war trocken, ihre Hände verkrampften sich. Panik, schoss es ihr durch den Kopf. Nichts weiter als Panik. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte dieses Haus verlassen – doch sie war wie erstarrt. Sein Blick hielt sie fest. Befahl ihr zu bleiben. Machte sie gefügig.
„Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin“, zwang sich Becca zu sagen, um ihm irgendwie Paroli zu bieten. Dann wandte sie sich Bradford zu und der Schwester ihrer Mutter, der übertrieben kritischen Helen. „Nachdem du mich beim letzten Mal hinausgeworfen hast …“
„Das hat nichts damit zu tun“, erwiderte ihr Onkel und schnaufte vor Ungeduld. „Es ist wichtig.“
„Die Ausbildung meiner Schwester ist mindestens ebenso wichtig“, gab Becca schnippisch zurück. Wie ein dunkler Schatten bewegte sich der Mann in ihrem Augenwinkel. Sie fühlte, wie er sie mit seinen Blicken verzehrte. Ihre Lungen drohten zu zerspringen. Ihr gesamter Körper … schmerzte .
„Um Himmels willen, Bradford“, murmelte Helen ihrem Bruder zu und drehte unentwegt an dem wertvollen Ring an ihrem Finger. „Was denkst du dir nur dabei? Sieh dir bloß diese Kreatur an! Hör doch mal zu, wie sie spricht! Würdest du jemals annehmen, sie sei eine von uns?“
Becca reckte sich. „ Sie hat ungefähr das gleiche Interesse daran, ‚eine von euch‘ zu sein, wie daran, barfuß über ein Meer aus Glasscherben zurück nach Boston zu wandern“, sagte sie. Sie hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, weshalb sie hergekommen war. „Alles, was ich von euch will, ist das, was ich schon immer gewollt habe. Mir bei der Erziehung meiner Schwester beizustehen. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt.“
Sie ließ ihren Blick demonstrativ über die teure Einrichtung schweifen. Die dicken weichen Teppiche, die Gemälde an den Wänden, die Decke, die unter dem Gewicht wertvollster Leuchter schier zu explodieren drohte. Ganz zu schweigen davon, dass das familieneigene Anwesen sich mitten in der New Yorker City befand und sich über einen kompletten Straßenblock erstreckte. Becca musste nichts über Immobilienpreise in Manhattan wissen, um zu erkennen, dass es ihnen ein Leichtes wäre, ihr finanziell unter die Arme zu greifen.
Dabei ging es nicht um Becca selbst, sondern um ihre siebzehnjährige Schwester Emily. Emily war ein helles Köpfchen und schien eine große Zukunft vor sich zu haben. Mit ihrem schmalen Gehalt als Anwaltsgehilfin konnte Becca ihr diese Zukunft aber nicht sichern. Nur vor diesem Hintergrund war Becca bereit gewesen, sich für ihre Schwester quasi zu prostituieren. Ausschließlich aus diesem Grund fühlte sich Becca genötigt, Emily zu helfen, obwohl Bradford ihre Mutter eine Hure genannt und Becca vor einem halben Jahr bei ihrem letzten Gespräch vor die Tür gesetzt hatte. Beccas Ersparnisse waren ausgereizt und sie tat verzweifelt alles Mögliche, das erforderliche Schulgeld für Emily aufzutreiben. Nur das hielt sie davon ab, Bradfords finsteren Blick auf gleiche Weise zu erwidern.
Außerdem hatte sie ihrer Mutter am Sterbebett ein Versprechen gegeben. Sie würde für Emily sorgen, ganz egal, was kommen würde. Wie könnte sie je diesen Schwur brechen, nachdem ihre Mutter Becca zuliebe ihr abwechslungsreiches Leben in der Glitzerwelt geopfert hatte?
„Aufstehen!“, ertönte es neben ihr – viel zu nahe neben ihr. Becca schreckte zusammen – und schämte sich sofort wegen dieser Schwäche.
Was war das Besondere an diesem Mann, der ihr so unter die Haut ging? Sie kannte doch nicht einmal seinen Namen.
„W…was … soll ich?“, fragte sie perplex.
Diese finsteren, nachdenklichen Gesichtszüge, sein bronzefarbener Teint, der durchdringende Blick – all das strömte pure, atemberaubende Männlichkeit aus. Beim Anblick seiner vollen Lippen spürte sie, wie tief in ihrem Innern ihre weiblichsten Gefühle erwachten.
Was war bloß mit ihr los?
„Aufstehen!“, wiederholte er im Befehlston. Sie gehorchte ihm, ohne es wollen, und
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