Julia Extra Band 369
das Opfer als der Täter.“
„Mit anderen Worten, ich soll ihm nicht an den Kragen gehen“, erwiderte er mit einem Funken seines gewohnten Humors.
„Ich dachte nicht nur an Handgreiflichkeiten, man kann einen Menschen auch durch Worte demütigen.“ Wer wusste das besser als sie? Cherry senkte den Kopf.
Vittorio runzelte die Stirn. Er legte ihr die Hand unters Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Warum liegt Ihnen Sophia so am Herzen?“, fragte er eindringlich. „Sie kennen sie kaum.“
Cherrys Herz klopfte zum Zerspringen. Seine Finger auf ihrer Haut und der Duft seines Rasierwassers reizten ihre Sinne. Eigentlich ging es ihr um Vittorio, nicht um Sophia, das war ihr jetzt klar. Sophia würde die Situation meistern, würde Santo und ihr Baby haben, doch Vittorio …
Sie rief sich zur Ordnung. Wenn jemand für sich selbst sorgen konnte, dann wohl Vittorio Carella!
„Wir Frauen fühlen uns eben alle als Schwestern“, meinte sie leichthin. „Und Sophia mag ich besonders gern. Das ist die ganze Erklärung.“
Völlig überraschend beugte er den Kopf und gab ihr einen zärtlichen Kuss. „Gehen Sie schlafen, Cherry. Es war ein langer und anstrengender Tag für Sie. Frühstück ist um halb acht.“
Warum reichte eine flüchtige Berührung seiner Lippen, und sie schwebte wie auf Wolken? Cherry begriff es nicht. Sie wusste auch nicht, ob sie über diese Tatsache glücklich oder verzweifelt sein sollte. Tröstlich war allein, dass Vittorio nicht wissen konnte, wie es in ihr aussah.
Sie nickte kurz und floh regelrecht ins Haus. Sie eilte die Treppe hoch und atmete erst auf, nachdem sie ihre Zimmertür hinter sich geschlossen hatte. Sie hatte ihr Bestes getan, alles Weitere lag nicht mehr in ihrer Hand.
Cherry duschte, legte sich ins Bett – und konnte nicht einschlafen. Blütenduft drang durch das offene Fenster aus dem Garten zu ihr, und das Mondlicht malte geheimnisvolle Muster auf den kostbaren Teppich.
England, Liam und Angela und der Schmerz, den sie ihr zugefügt hatten, schienen plötzlich so unwirklich wie eine längst vergangene Welt. Cherrys Gedanken kreisten ausschließlich um Vittorio und dessen Schwester, die sie erst seit wenigen Stunden kannte, und um Santo, den sie überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Ihr Leben schien plötzlich auf den Kopf gestellt worden zu sein.
Im Haus war es vollkommen still, keine Türen wurden geschlagen, keine Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Ob Sophia ihren Santo nicht zu Hause angetroffen hatte? Ob sie von ihm abgewiesen worden war und er mit dem Baby nichts zu tun haben wollte? Vielleicht hatte Vittorio ihn gar nicht erst ins Haus gelassen. Möglicherweise hatte Sophia auch den Mut verloren und war nicht wieder zurückgekehrt.
Tausend Gedanken gingen Cherry durch den Kopf und ließen sie keinen Schlaf finden. Schließlich ging sie auf den Balkon und setzte sich in einen der bequemen Sessel. Wie friedlich der Garten im Mondschein lag, wie süß die Nachtluft duftete! Die Stimmung war Balsam für ihre Seele. Nach und nach gelang es Cherry, sich zu entspannen, sie wurde schläfrig und ging zurück ins Bett.
Kaum hatte sie sich hingelegt, als jemand leise anklopfte. Das musste Sophia sein! Cherry schlug die Decke zurück und eilte barfuß durchs Zimmer, um die Tür zu öffnen.
„Haben Sie schon geschlafen?“ Vittorio, die Hände in die Hosentaschen geschoben, lehnte an der gegenüberliegenden Wand. Sein Gesichtsausdruck war bei der dämmrigen Beleuchtung nicht zu erkennen.
„Nein.“ Cherry versagte vor Überraschung fast die Stimme. Was für eine peinliche Situation! Was musste er von ihr denken? Ausgerechnet diese Nacht trug sie ihren mit kleinen Teddybären bedruckten und schon ziemlich verwaschenen Lieblingsschlafanzug. Vittorio musste sie für einen albernen Teenie halten und nicht für die erwachsene Frau, die sie war.
„Das dachte ich mir schon, dass Sie vor lauter Sorge um Sophia nicht zur Ruhe kommen.“ Seine Worte klangen freundlich und verständnisvoll, er machte jedoch keine Anstalten, näher zu kommen. „Ich habe mit Santo gesprochen, und er hat das Haus wieder verlassen – unversehrt, das wollte ich Ihnen nur mitteilen.“
„Die beiden sind wirklich gekommen? Ich habe nichts gehört.“ Unwillkürlich errötete sie. Dachte er jetzt, sie hätte die ganze Zeit mit dem Ohr am Schlüsselloch gestanden und gelauscht?
„Morgen treffe ich mich mit Santos Eltern, um über die Zukunft zu beraten“, redete er weiter. „Aber
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