Julia Extra Band 370
Wangenknochen und ein scharf konturiertes Kinn. Das Haar, früher eine ungebändigte lange Mähne in unzähligen Schattierungen von Honigblond bis Bronze, fiel ihr jetzt dunkelblond und glänzend über die Schultern.
Aber ihre Augen waren immer noch auffallend blau, die Lippen sündig, ein passenderes Wort fiel ihm dazu nicht ein. Allerdings musste Titus zugeben, dass sie trotz der verwaschenen Jeans und des glitzernden Pailletten-T-Shirts eine natürliche Anmut ausstrahlte. Auch wenn sie müde wirkte. Abgekämpft. Wie eine Frau, die zu viel gesehen hat, dachte er, als sie nach dem Mikrofon griff und es ganz nah an ihre dunkelrot geschminkten glänzenden Lippen brachte.
„Guten Abend, Ladies und Gentlemen, ich freue mich sehr, bei Ihnen zu sein, und möchte Sie alle ganz herzlich begrüßen!“ Nach einer kleinen Kunstpause fuhr sie fort: „Ich bin Roxy Carmichael und wünsche Ihnen heute Abend viel Vergnügen.“
„Mit dir jederzeit, Roxy“, grölte es aus dem hinteren Teil des dunklen Clubs, und irgendwer lachte.
Es folgte eine angespannte Stille, und eine Sekunde lang wirkte sie fast verletzlich … und verunsichert. Doch dann schlug der Pianist den ersten Akkord an, und sie begann zu singen. Trotz seiner Abscheu verspürte Titus beim Klang ihrer Stimme einen seltsamen Kitzel. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und lauschte mit geschärften Sinnen den süßen Tönen, die sie ihrer Kehle entlockte. Talent hatte sie ja, das musste er zugeben.
Die Zeit verging wie im Flug, während sie von Liebe, Schmerz und Verlust sang. Jedes Mal, wenn sie in pseudoleidenschaftlicher Geste den Kopf in den Nacken warf, verspürte Titus wieder dieses verräterische Ziehen in der Leistengegend. Am Ende ihres letzten Songs erstarb ihre Stimme mit einem kleinen atemlosen Seufzer, und Titus hatte fast Mühe, sich aus ihrem Bann zu befreien. Das war lächerlich! Dabei war sie nichts als eine nur auf ihren eigenen Vorteil bedachte kleine Schlampe, der es auch nichts ausmachte, einer anderen Frau den Mann wegzunehmen.
Sie beendete ihre Darbietung abrupt. In dem Moment, in dem der letzte Ton verklungen war, riss sie die Augen auf, als ob sie soeben unsanft aus einem Traum erwacht wäre. Der lahme Beifall wurde mit einer gefühlvollen Zugabe belohnt, deren Refrain sich in dem schäbigen Ambiente des Kit-Kat-Clubs höchst bizarr ausnahm. Nachdem der Song zu Ende war, machte sie eine temperamentvolle Kehrtwendung, wobei die Pailletten an ihrem billigen T-Shirt noch ein letztes Mal heftig blinkten, und verschwand wieder im Dunkel der Kulissen.
Der Pianist stolperte in Richtung Bar davon, während sich die staubigen Samtvorhänge lautlos schlossen. Als Titus in seinen Mantel schlüpfte, fühlte er sich seltsam schmutzig, als ob ihm der Mief des Clubs sämtliche Poren verstopfte. Draußen sog er erst einmal gierig die frische kalte Nachtluft tief in die Lungen, bevor er um das Gebäude herum zu einer Tür auf der Rückseite ging.
Die mittelalte Frau, die auf sein Klopfen hin öffnete, musterte ihn fragend von oben bis unten. „Kann ich Ihnen weiterhelfen?“
„Ich hoffe. Ich möchte zu Roxy Carmichael.“
„Sind Sie angemeldet?“
Titus schüttelte den Kopf. „Nicht direkt.“
Diesmal musterte ihn die Frau noch eingehender. „Sind Sie von der Presse?“
Titus verzog den Mund zu einem sardonischen Lächeln. Er mit seiner sich über Jahrhunderte erstreckenden aristokratischen Ahnenreihe sollte aussehen wie irgendein x-beliebiger Presseheini ? Er schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich bin nicht von der Presse.“
„Sie empfängt keine Besucher“, informierte ihn die Frau desinteressiert.
„Sind Sie sicher?“ Titus zog eine schmale lederne Brieftasche aus der Innentasche seines Mantels und holte einen Geldschein heraus, den er ihr in die Hand drückte. „Vielleicht versuchen Sie es ja noch mal … in aller Freundlichkeit, okay?“
Die Frau zögerte einen Moment, bevor sie die Banknote hastig in die Tasche ihres Kleides stopfte. „Aber ich kann nichts versprechen“, murmelte sie unwirsch und bedeutete ihm, ihr zu folgen.
Sobald die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, fühlte sich Titus von einer deprimierend trübseligen Backstage-Atmosphäre umfangen. Natürlich hätte er Roxanne Carmichael auch erst morgen mit der harten Realität konfrontieren können, doch da sein Blut jetzt schon mal in Wallung war, hatte er beschlossen, die Sache unverzüglich hinter sich zu bringen. Zumal er es hasste zu
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