Julia Extra Band 370
es einer Frau recht zu machen …
Zweifellos hatte sie den größten Teil ihrer Kindheit damit verbracht, es ihrer Mutter recht zu machen. Sie hatte immer sichergestellt, dass ihre Mutter keinen Grund zur Klage hatte. Weil sie ihr schon genug vorwarf: dass Shirleys Vater sie verlassen hatte, dass sie keinen neuen Partner fand, sich nicht für aufregende Jobs im Ausland bewerben und nicht in ein besseres Stadtviertel außerhalb von Shirleys Schulbezirk umziehen konnte.
Ihre Mutter klagte ständig, wie arm sie waren, obwohl ihr Kleiderschrank übervoll war und sie die besten Zeitschriften abonnierte. Sie ging selten abends essen oder ins Theater oder mit Freunden ins Kino. „Ich kann es mir nicht leisten“, sagte sie immer seufzend. „Nicht mit Shirleys Schulgebühren.“
Aber sie hatten sich einmal die Woche einen Gärtner und eine Putzfrau leisten können.
Sie war vierzehn gewesen, als ihre Mutter gestorben war. Sie hatte sie immer nur mit den Augen eines Kindes gesehen. Natürlich hatte sie eine kultivierte, beliebte Hochschuldozentin und Mutter gesehen. Und wenn ich alt genug gewesen wäre, um zu verstehen, was ich sehe? fragte sich Shirley jetzt. Vielleicht hatte ihre Mutter nicht mit Geld umgehen und schlecht Freundschaften pflegen können. Vielleicht hatte sie einfach ihre sichere Dozentenstelle und ihr Haus nicht aufgeben wollen. Vielleicht hatte ihr Mann sie verlassen, weil ihre Ehe gescheitert war, und nicht, weil Shirley auf die Welt gekommen war.
Wie oft hatte sie Shirley als Ausrede benutzt, um ihre Schwächen zu verbergen? Es war die erstbeste Rechtfertigung gewesen, um alles zu entschuldigen. Auf Kosten ihrer Tochter.
Shirley spürte, dass sich in ihrem Innersten etwas veränderte. Der Schmerz und die Verwirrung vieler Jahre fielen von ihr ab.
Womit hatte Hayden noch recht gehabt?
Versteckte sie sich hinter Shiloh, damit niemand sie zurückweisen und ihre Meinung herabwürdigen konnte? Vermied sie es, Beziehungen einzugehen? Sie hatte eine Unmenge von Onlinebekanntschaften. Bei öffentlichen Veranstaltungen traf sie unzählige Leute, denen sie lächelnd zunickte. Journalisten, die sie kannte. Kontakte, die sie pflegte. Alles Leute, die sie als Shiloh erlebten. Aber echte Freunde hatte sie nicht.
Hatte sie sich ebenso viele clevere Lebensstrategien ausgedacht wie ihre Mutter, um Bindungen zu vermeiden? Um keine persönlichen Risiken eingehen zu müssen? Hatte es sie dazu gebracht, nichts von sich preiszugeben?
Shirley stand auf, schaltete die Lampe aus und legte sich, noch angezogen, auf die Luftmatratze.
Sie hatte etwas preisgegeben. Sie hatte sich in Hayden verliebt, ihm einen Platz in ihrem Herzen eingeräumt. Zwei seelisch geschädigte Menschen, die sich in der Dunkelheit aneinander festhielten.
Nur hatte sie nicht erkannt, dass es dunkel war und Hayden sie nicht fest-, sondern auf Abstand hielt.
Und jetzt wollte er raus. Tieftraurig lag Shirley mit offenen Augen da und wartete auf den Morgen.
12. KAPITEL
Ratsch.
In ihrem Traum hörte sich das Geräusch an, als würde Hayden aufreizend langsam den Reißverschluss an ihrem Kleid hinunterziehen. Sie glaubte, seine warmen, forschenden Hände zu spüren, wand sich unter der imaginierten Berührung.
Aber dann bahnten sich andere Geräusche einen Weg in ihr Unterbewusstsein. Kramen, Schnaufen, Seufzen.
Shirley wachte auf und drehte sich auf den Rücken.
In dem Campingstuhl in der Ecke hob sich ein dunkler Schatten gegen das Mondlicht draußen ab.
„Hayden?“ Erst als sie seinen Namen flüsterte, kehrte die Erinnerung an ihr Gespräch zurück. Shirley verkrampfte sich.
„Tut mir leid. Es ist eiskalt da draußen. Der Transporter ist abgeschlossen. Ich werde hier auf den Morgen warten.“
Sie rollte sich wieder auf die Seite. „Mach, was du willst.“
Schweigen. Dann ein schwerer Atemzug.
„Hast du gehofft, ich lasse mich erweichen?“, fragte sie in die Dunkelheit.
„Irgendwie schon, ja.“
Hätte er verneint, hätte sie ihn weiterfrieren lassen. Aber das Lächeln, das sie in seiner Stimme hörte, sagte so viel über ihn aus. Hayden war, wie er war. Er hatte sie nicht um ihre Zuneigung gebeten, und er war nicht unehrlich zu ihr gewesen. Er war schlicht und einfach nicht daran interessiert, sich zu ändern. Nicht für sie.
Er hatte die Dinge nur so benannt, wie er sie sah.
„Na gut, komm rein.“
Bevor sie den Satz beendet hatte, wackelte schon die Luftmatratze, und Hayden warf den zweiten Schlafsack über sie
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