Julia Extra Band 372
ihr wollte. Das kam nicht infrage. Sie bot ihm auch keine Gelegenheit. Selten sah sie ihn an, sprach mit ihm nur, wenn es geschäftlich erforderlich war und nannte ihn nicht einmal beim Vornamen. Er wusste nicht recht, wie er mit ihr umgehen sollte. Er ging wie auf Zehenspitzen um sie herum, obwohl er am liebsten über sie hergefallen wäre. Dabei wusste er tief drinnen – war sich ganz sicher –, dass auch sie ihn begehrte.
Das ständige Verlangen war schmerzhaft. Und die Unmöglichkeit, ihm nachzugeben, machte es noch schlimmer.
Daher verbrachte er möglichst viel Zeit in den Verkaufsräumen, weit entfernt von der Versuchung im Verwaltungsbüro. Doch selbst dort spürte er den Instinkt, der ihn unwiderstehlich zu ihr hintrieb. Gewöhnlich vertraute Ryan auf seine Instinkte. Diesen wünschte er jedenfalls zum Teufel.
Tief in Gedanken versunken, ging Imogen frühmorgens zur Arbeit. Es war noch dunkel, und wenn sie Feierabend machte, würde es wieder dunkel sein. Im winterlichen Edinburgh gab die Sonne immer nur kurze Gastspiele. Aber es gab ein anderes Licht an ihrem Horizont. Ryan Taylor bestrahlte die Welt heller als der größte Stern am Himmel … und nicht nur ihre Welt. Sie hatte gesehen, wie die Kolleginnen in den Verkaufsräumen sich aufrichteten, sobald er erschien. Es war nicht die Habachtstellung, weil der Chef erschien, sondern ihre Haltung schien zu sagen: „Zieh den Bauch ein, hier kommt der attraktivste Mann unter der Sonne.“ Es waren auch keineswegs nur die Häschen in der Kosmetikabteilung, sondern auch die älteren Verkäuferinnen bei den Haushaltswaren oder der Damenbekleidung. Sogar die jungen Männer in der Sportabteilung schienen beeindruckt. Wo er auch erschien, wandten sich alle Köpfe zu ihm um, und jeder wollte von ihm gesehen werden.
Es war nicht nur sein gutes Aussehen. Er hatte eine Leichtigkeit an sich, die alle in seinen Bann zog. Seine offene, zugängliche Art ließ die Menschen seine Nähe suchen. Wenn er in Imogens Nähe kam, verriet das Blitzen in seinen Augen, dass seine Gedanken nicht so harmlos waren, wie sie es sein sollten.
Ryan Taylor blendete alle mit seinem Charme. Imogen war entschlossen, ihm zu widerstehen. Und doch spielte sie sich zum millionsten Mal in Gedanken die Szene im Hotelflur vor. Das war eine angenehme Art, sich auf dem kalten Weg zur Arbeit warm zu halten, redete sie sich ein. Sie überquerte die Brücke und war in ihrer Fantasie gerade an der Stelle, an der er nach dem Handtuch griff, als sie auf dem eisigen Boden ins Rutschen kam.
„Vorsicht!“ Sie fühlte sich von einer starken Hand gepackt. „Sie wollen sich doch nicht schon wieder das Knie aufschlagen.“
„Oh!“ Sie schnappte nach Luft. „Vielen Dank.“ Erschrocken tastete sie nach dem Brückengeländer. Erst jetzt erkannte sie ihren Retter. „Danke“, stieß sie noch einmal hervor. Erneut holte sie tief Luft, aber der Sauerstoff half nicht. Ihr Herz raste. „Ich bin für diesen Schnee nicht gemacht.“
Ryan lachte. „Das ist doch noch kein Schnee, nur ein bisschen Raureif.“
„Was es auch ist, für mich ist es zu rutschig.“ Die ganze Welt erschien ihr auf einmal spiegelglatt. Sie packte das Geländer fester und war entschlossen, sich nicht vom Fleck zu rühren, bis er gegangen war.
Er trat neben sie, um den anderen Passanten nicht länger im Weg zu stehen. Auch er atmete heftiger als normal, aber bei ihm passte das zu seinem Laufanzug und dem Schweiß auf der Stirn.
„Sie gehen sehr früh zur Arbeit.“ Er schien nicht zu bemerken, dass sie starr wie eine Statue dastand.
„Ich muss noch ein paar Dinge erledigen. Und Sie …“ Sie hatte den Faden verloren.
„Ich jogge eine Runde.“ Er lächelte.
Zum ersten Mal seit Tagen sah sie ihm offen ins Gesicht. Selbst im Dämmerlicht des frühen Morgens waren seine Augen leuchtend blau. Widerstrebend wurde sie sich bewusst, dass sie unwillkürlich sein Lächeln erwiderte. Oh, er war so verdammt perfekt. Einer dieser amerikanischen Siegertypen mit den blauen Augen, dem braunen Haar, der bronzefarbenen Haut, den breiten Schultern … Ihre Gedanken drohten abzugleiten.
„Tragen Sie eigentlich Kontaktlinsen?“
„Nein. Warum?“ Er sah sie erstaunt an.
Imogen konnte kaum glauben, dass sie ihm diese Frage laut gestellt hatte. „Ihre Augen sind so blau.“ Sie flüsterte fast. O Hirn, wo bist du? Sie zuckte zurück. „Entschuldigung.“
„Wieso?“
Weil es sich nicht gehörte. Aber sie konnte nicht antworten und wandte
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