Julia Extra Band 372
herein, statt herauszukommen und wie früher entspannt mit ihr zu plaudern.
Jede Mittagspause und manchmal auch noch einige Zeit nach ihrem Feierabend verbrachte Imogen am Packtisch. Ryan ließ sich nicht mehr blicken. Keine lächerlichen Geschenke gaben mehr Anlass zu anzüglichen Wortspielen. Stattdessen unterhielt sie sich mit den Studentinnen, die für die Vorweihnachtszeit als Aushilfen engagiert waren. Sie erfuhr, wie sie hießen, was sie studierten und was sie sich zu Weihnachten wünschten.
Was sie sich wünschte, war unerreichbar, und sie war selbst daran schuld. Ihr wurde klar, wie dumm sie sich verhalten hatte. Warum hatte sie nicht einfach nehmen können, was er zu bieten hatte? Warum hatte sie die ganze Angelegenheit so dramatisieren müssen?
Weil sie zu viel Angst hatte, zu unsicher war. Sie hatte Angst vor der Verletzung und dem Schmerz, wenn das Vergnügen vorbei war. Deshalb hatte sie sich nicht auf ihn einlassen können, sondern ihn zurückgewiesen.
Wie kam es dann, dass ihr Herz heftiger schmerzte als damals bei Georges Verrat? Der hatte sie benutzt und gedemütigt. Ryan verletzte sie, indem er nichts tat. Sie wünschte, er würde sie wenigstens wieder anschauen.
„Was hast du über Weihnachten vor, Imogen?“ Shonas Lächeln war zu freundlich, ihr Blick zu mitfühlend.
Es waren nur noch wenige Tage bis Weihnachten, und Imogen hatte den Gedanken an traurige Einsamkeit bisher verdrängt. „Ich bin zum Essen mit ein paar anderen Kiwis verabredet.“ Die Lüge war schal, aber sie kam ihr leicht über die Lippen. „Danach werden wir wohl bei ein paar Drinks Geschichten aus der Heimat austauschen.“ Wenn sie die Lüge mit ein paar Details anreicherte, würde sie vielleicht glaubhafter wirken.
„Ich wusste gar nicht, dass du hier Freunde aus Neuseeland hast.“
„Einige.“ Genau genommen kannte sie einen einzigen Landsmann in Edinburgh. Sie hatte ihm nicht einmal eine E-Mail zu Weihnachten geschickt. Nach ihrer Flucht aus Neuseeland hatte sie ganz neu beginnen und das Leben in der Heimat vergessen wollen … wenigstens die letzten Monate.
Imogen wandte den Kopf, weil sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkt hatte. Ryan stand hinter Shona und hatte offenbar die letzten Worte mitgehört. Er blickte zu ihr herüber, und für einen Moment schien der Blick aus seinen blauen Augen sie wieder verzaubern zu können. Doch dann sah sie, wie er die Stirn runzelte. Er hatte ihre Lüge durchschaut. Er glaubte ihr kein Wort.
„Falls du möchtest, kannst du auch zu uns kommen und ein original schottisches Weihnachtsfest erleben.“
Also glaubte Shona ihr auch nicht. Jetzt wurde es peinlich. Beide sahen sie so … mitleidig an.
Warum verschwand Ryan nicht endlich? Tagelang hatte er sich nicht blicken lassen. Nun stand er wie eine Statue und lauschte diesem unerfreulichen Gespräch.
„Oh, vielen Dank, Shona. Aber nein, ich möchte mich nicht aufdrängen.“
„Aber das tust du doch gar nicht. Wir haben sowieso immer viel zu viel zu essen.“
„Ja“, erwiderte Imogen rasch. „Ist das nicht an Feiertagen meistens so? Aber ich freue mich wirklich auf meine erstes Weihnachtsfest allein zu Hause ohne den ganzen traditionellen Kram.“
Lügnerin! Lügnerin! Sie liebte Traditionen.
„Nun … falls du es dir anders überlegst.“
„Vielen Dank.“ Es war wirklich lieb gemeint von Shona, aber Imogen wünschte, die Erde würde sich auftun und sie verschlingen. Wenn doch dieses Gespräch nur zu Ende ginge! Vorsichtig warf sie Ryan einen Seitenblick zu. Er stand an den Türrahmen gelehnt, die Beine zu lang, die Schultern zu breit, die Augen zu blau. Wenn er nur nicht so verdammt gut aussehen würde!
Imogen verzog den Mund. Fast wäre es ein richtiges Lächeln geworden. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr leidtat. Sie wollte mit ihm reden. Sie wünschte, er würde wieder mit ihr flirten.
Doch jetzt wandte er sich um und verschwand wieder in seinem Büro. Diesmal blieb die Tür offen stehen.
Imogen hatte sich angewöhnt, nach Feierabend noch ein wenig im Weihnachtsshop zu bleiben. Leise summte sie „Stille Nacht“ mit, das sanft aus den Lautsprechern erklang. Sie konzentrierte sich ganz auf die hübsche Schleife, mit der sie das Geschenkpaket des Kunden verzierte. Es machte ihr Freude, mit jedem dieser Päckchen einem Menschen das Weihnachtsfest noch ein bisschen schöner zu machen. Als sie mit einem freundlichen Lächeln das Päckchen dem Kunden überreichte, entdeckte sie Ryan. Er stand halb
Weitere Kostenlose Bücher