Julia Extra Band 372
hinter einem der glitzernden Weihnachtsbäume verborgen, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Blicke trafen sich, und wieder einmal war Imogen wie hypnotisiert von dem strahlenden Blau seiner Augen.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und ihre Finger waren auf einmal steif und unbeholfen. Schon zum dritten Mal musste sie die Schleife neu ansetzen. Konnte sie sich einfach davonstehlen? Aber eine lange Reihe von Kunden wartete auf diesen kleinen Extraservice.
Ryan sah aus, als wolle er reden. Vielleicht konnten sie noch einmal von vorn beginnen. Langsamer diesmal. Sie sah wieder zu ihm hinüber und fühlte Verlangen in sich aufwallen. Vielleicht doch lieber nicht langsam. Ihre Nerven flatterten, und sie spürte abwechselnd heißen und kalten Schweiß auf der Haut.
Der letzte Kunde wollte vier Geschenke verpackt haben. Als sie das schließlich geschafft hatte, war Ryan verschwunden.
Als sie später in den Verwaltungstrakt hinaufging, um ihren Mantel zu holen, hoffte sie, ihn noch einmal zu sehen. Aber die Räume waren dunkel, und sein Büro war leer.
Auf dem Heimweg fühlte sie sich einsamer denn je. Acht Monate lebte sie nun schon in Edinburgh. Bevor Ryan auf der Bildfläche erschienen war, hatte sie sich wohlgefühlt. Sie hatte sich auf ihre Arbeit und ihre Weiterbildung gestürzt und sich mit Shona angefreundet. Sie war glücklich gewesen mit ihrem sicheren, ruhigen Leben.
Von glücklich konnte jetzt keine Rede mehr sein. Ryan Taylor hatte Wünsche in ihr geweckt, von denen sie nicht glauben konnte, dass er sie erfüllen würde. Sie sehnte sich nach Liebe und Verbindlichkeit. Da gab es nur eines. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wählte.
„Hallo?“
„Hallo, Mum, ich bin’s.“ Schon allein die Stimme ihrer Mutter zu hören, verbesserte ihre Gemütslage.
„Imogen, Liebling! Wie geht es dir? Es ist Imogen!“
Imogen hielt das Telefon von ihrem Ohr entfernt, als ihre Mutter ihren Vater und den Rest der Nachbarschaft wissen ließ, wer anrief.
„Mir geht es gut, Mum. Und dir?“
„Gut, Liebling, gut.“ Imogen wusste, dass sie viel zu selten zu Hause anrief. Sie schob es darauf, dass sie mit der Arbeit und dem Studium immer so beschäftigt war. In Wirklichkeit hatte sie sich von ihrer Familie und ihren Freunden zurückgezogen. Sie schämte sich für das Desaster mit George. Die Bailey-Jones hatten sie zutiefst gedemütigt.
„Wie steht es denn mit den Weihnachtsvorbereitungen?“ Die Tage vor dem Fest waren zu Hause immer die schönste Zeit gewesen.
„Na ja, ich bekomme wie gewöhnlich um diese Zeit den Kühlschrank kaum noch zu. Dein Vater hat einen Schinken bestellt, der ist halb so groß wie Australien.“
Unwillkürlich musste Imogen lächeln, als sie die vertrauten Bilder vor sich sah. „Hast du wieder die ganze Nacht gebacken?“
„Natürlich.“ Ihre Mutter seufzte. „Wir haben mal wieder viel zu viel zu essen.“
„Ihr werdet das während der Feiertage beim Kricket wieder abarbeiten.“
„Wahrscheinlich. Derek hat wieder ein Spielfeld im Park gemäht. Ich bin gespannt, was der Bürgermeister dazu sagen wird.“
Imogen hätte am liebsten laut gelacht, aber dann spürte sie Heimweh in sich aufsteigen. Ihre Familie hatte sehr eigenwillige Weihnachtsbräuche. „Der wird schon nichts sagen. Es ist schließlich Weihnachten.“
„Und was ist mit dir, Liebes? Hast du schöne Pläne?“
„O ja“, log sie. „Ich bin zum Essen mit ein paar Freunden verabredet.“
„Ist mein Päckchen angekommen?“
„Ja. Und ich schwöre, ich habe es noch nicht geöffnet.“ Allerdings wusste sie genau, was es enthielt, denn ihre Mutter hatte pflichtbewusst jeden einzelnen Gegenstand auf der Zollerklärung angegeben.
Während ihre Mutter weiter über die Festtagspläne der Familie sprach, musste Imogen an das vergangene Weihnachtsfest denken. Sie war am Boden zerstört gewesen. Ihre Eltern hatten ihr jede Unterstützung geboten, aber sie hatte nur so schnell wie möglich verschwinden wollen.
Nach dem Albtraum mit George kam sie sich vor, als seien sie und ihre Familie nicht gut genug, nicht einmal für einen Widerling wie ihn. Sie hatte ihren Eltern den Rücken gekehrt und war davongelaufen. Wie hatte sie nur so treulos sein können?
Ihre Eltern waren hart arbeitende Menschen, die sie über alles liebten. Sie konnte stolz auf ihre Herkunft sein. Ihre Minderwertigkeitsgefühle waren dumm gewesen, und noch viel dümmer war es, Georges Verfehlungen auf Ryan zu übertragen.
Ryan hatte mehr
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