Julia Extra Band 373
als sie den neugierigen Blick der Bewährungshelferin auffing. „Er ist wohl der Meinung, dass wir beide versuchen müssen, wieder ein normales Leben zu führen, und glaubt, dies wäre die beste Methode.“
„Trotzdem ist es eine bemerkenswert großzügige Geste.“
Als sich Ava zwei Tage später in einer Luxuslimousine auf der Fahrt zu Bolderwood Castle befand – mit dem schlafenden Harvey zu ihren Füßen und einer Reisetasche im Kofferraum – überlegte Ava, ob Vito schon immer so großherzig gewesen war. Vermutlich, denn er hatte Olly ein Zuhause gegeben, als der als Kind plötzlich Vollwaise geworden war. Dabei hatte er seinen kleinen Halbbruder zuvor erst zweimal getroffen. Ein anderer Mann hätte den Jungen vielleicht seinem Schicksal überlassen. Vito gab sich immer so taff und unnahbar, war bei Mitbewerbern und Mitarbeitern gleichermaßen gefürchtet und geschätzt, doch er hatte offensichtlich ein weiches Herz.
Ava wurde immer nervöser, je näher sie dem Schloss kamen. In dieser Gegend war sie aufgewachsen und kannte praktisch jeden Baum. Sollte sie es wagen, ihren Vater oder ihre Schwestern zu besuchen?“
Besser nicht. Sie wollte sich nicht aufdrängen. Womöglich würde man sie an der Tür abweisen, wie eine Hausiererin! Ava wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie war auf sich allein gestellt, aber wenigstens hatte sie ihre Freiheit wieder. Doch was mochte sie im Schloss erwarten? Am liebsten wäre Ava ausgestiegen und hätte die Flucht ergriffen, als die Limousine vor dem riesigen, elektronisch betriebenen Tor warten musste. Die Leute hielten sie bestimmt für schamlos, weil sie sich hier wieder blicken ließ – nach allem, was sie verschuldet hatte.
Im Scheinwerferlicht erhob sich in einiger Entfernung das mächtige Schloss mit seinen vier Türmen und unzähligen, elisabethanisch anmutenden Schornsteinen. Der ursprüngliche Architekt hatte sich wohl bei jeder vor-viktorianischen Epoche bedient, um diesen Look zu kreieren, den Ava schon immer wildromantisch gefunden hatte. Das Schloss war in einer Zeit erbaut worden, als die Besitzer sich noch unzählige Bedienstete leisten konnten und ständig Feste feierten. Auch Vito beschäftigte viele Angestellte hier, nur mit dem Feiern hatte er es nicht so. Es musste einen Mann, der so viel Wert auf den Schutz seiner Privatsphäre legte, große Überwindung kosten, eine Weihnachtsparty zu geben, zu der nicht nur das gesamte Personal, sondern auch alle Nachbarn eingeladen waren.
Eleanor Dobbs, die schlanke brünette Haushälterin, begrüßte Ava an der imposanten Eingangstür. „Miss Fitzgerald“, sagte sie, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, Ava im Schloss willkommen zu heißen. „Kommen Sie herein! Ich bringe Sie gleich zu Ihrem Zimmer, damit Sie schon mal Ihre Sachen auspacken können.“
„Bitte sagen Sie Ava“, bat Ava und errötete verlegen. „Wie ist es Ihnen denn so ergangen?“
„Es ist sehr ruhig hier gewesen seit Ihrem letzten Besuch.“ Die Haushälterin eilte die elegante Treppe hinauf. „Wir freuen uns alle sehr, dass es in diesem Jahr wieder eine Weihnachtsparty gibt.“
Ava lächelte freundlich. Sie war so bemüht gewesen, Smalltalk mit Eleanor zu machen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wohin diese sie führte. Nun fand Ava sich plötzlich im größten Gästezimmer des Schlosses wieder. Es handelte sich um ein romantisches Turmzimmer mit antiken Mahagonimöbeln und angrenzendem Badezimmer. Das munter im Marmorkamin brennende Feuer warf lebhafte Schatten auf die Brokattapeten. Verblüfft betrachtete Ava das imposante Himmelbett mit den bestickten goldfarbenen Seidenvorhängen.
„Warum haben Sie mich hierhergeführt, Eleanor?“, fragte Ava leise.
„Weil Mr Barbieri mich gebeten hat, dieses Zimmer für Sie herzurichten.“
Fassungslos sah Ava sie an. „Wo ist Mr Barbieri?“, erkundigte sie sich schließlich angespannt.
„In seinem Schlafzimmer, soweit ich weiß.“
Die Haushälterin zog sich zurück. Ava atmete erleichtert auf und ließ den Blick über das luxuriös eingerichtete Zimmer gleiten. Diese Suite war eigentlich für hochgeschätzte Ehrengäste reserviert. Was hatte Vito sich nur dabei gedacht, sie hier unterzubringen?
Harvey hatte es sich bereits vor dem Kamin bequem gemacht.
„Mach es dir nicht zu gemütlich!“, warnte sie. „Hier können wir nicht bleiben.“ Sie verließ das Zimmer, überquerte den Flur und klopfte an Vitos Schlafzimmertür. Keine Reaktion. Ava
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