Julia Extra Band 373
umzugehen wissen.
Ava hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mindestens zweimal täglich in den Briefkasten zu sehen. Wieder nichts. Langsam musste sie wohl die Hoffnung begraben, dass ihre Familie je auf die Briefe reagieren würde, die Ava geschrieben hatte. Tränen der Enttäuschung schimmerten in ihren strahlend blauen Augen. Entschlossen blinzelte Ava sie fort und hob trotzig den Kopf. Die kupferroten Locken schwangen um das ausdrucksvolle Gesicht. Sie hatte gelernt, im Gefängnis allein zurechtzukommen, da würde sie es in der Freiheit wohl auch schaffen – auch wenn es am Anfang schwierig war, sich in dem Wirrwarr aus Angeboten, Enttäuschungen und Möglichkeiten zurechtzufinden.
„Lass es langsam angehen“, sagte ihre Bewährungshelferin Sally immer.
Harvey, der Schäferhund-Pudel-Mischling, wedelte aufmunternd mit dem Schwanz. Ava beugte sich vor, um ihm den schwarzen Lockenkopf zu kraulen.
„Wird Zeit, dich nach Hause zu bringen, alter Junge“, sagte Ava leise. In der Tierpension konnte Harvey allerdings nicht mehr lange bleiben. Während der letzten Monate ihrer Gefängnisstrafe hatte sie als Freigängerin in der Tierpension gearbeitet und hatte sich mit Harvey angefreundet. Sie liebte die treue Seele von ganzem Herzen. Wenn sie Harvey sah, ging es ihr sofort besser. Er war das einzige Wesen, das sie noch zu lieben wagte. Leider hatte Marge, die nette Leiterin der Tierpension, die sich auch herrenloser Tiere annahm, wenig Platz, und Harvey hatte schon mehrere Monate dort verbracht. Jedes Mal, wenn sich jemand für ihn interessierte, machte er den Leuten Angst mit seinem Gebell. So konnte es mit einem neuen Zuhause natürlich nichts werden. Harvey gab niemandem eine Chance herauszufinden, wie sanftmütig, treu und sauber er in Wirklichkeit war.
Ava wusste, wie sehr das Erscheinungsbild täuschen konnte. Sie selbst hatte sich jahrelang kühl, arrogant und abweisend gegeben, damit niemand auf die Idee kam, sie würde darunter leiden, immer die Außenseiterin zu sein. Zu Hause, in der Schule, eigentlich überall war Ava einsam und allein gewesen.
Nur Olly hatte zu ihr gehalten. Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Oliver Barbieri war ihr bester Freund gewesen. Nun musste sie mit dem Wissen leben, dass sie seinen Tod verschuldet hatte. Das Gericht hatte sie wegen fahrlässiger Tötung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. An das Verfahren hatte sie nur eine vage Erinnerung, denn schon vor der Gerichtsverhandlung hatte sie sich in einem seelischen Ausnahmezustand befunden. Sie hatte ihren besten Freund verloren. Das war sowieso die Höchststrafe. Da spielte es kaum noch eine Rolle, dass ihr Vater sie aus dem Haus geworfen und man ihr die Teilnahme an Ollys Trauerfeier verweigert hatte. Ava wusste, dass sie kein Mitleid, keine Vergebung verdient hatte. Obwohl sie keine Erinnerung an den Autounfall besaß. Infolge einer Kopfverletzung hatte sie eine Amnesie erlitten. Weder erinnerte sie sich daran, sich alkoholisiert ans Steuer gesetzt zu haben, noch wusste sie, wie es zu dem Unfall gekommen war.
Olly und sie hatten sich in einem Eliteinternat kennengelernt. Ihrem Vater war kein Preis zu hoch gewesen, das ungeliebte Kind abzuschieben. Schon immer hatte Ava sich wie ein Kuckuckskind gefühlt. Ihre beiden älteren Schwestern Gina und Bella durften zu Hause wohnen und eine nahegelegene Schule besuchen. Natürlich hatte die räumliche Trennung auch dazu beigetragen, einen Keil zwischen Ava und die beiden anderen Mädchen zu treiben. Inzwischen sah sie sich tatsächlich in der Rolle der verlorenen Tochter, die man ganz sicher nicht einladen würde, in den Schoß der Familie zurückzukehren. Zumal ihre Mutter inzwischen gestorben war. Sie wäre wohl die Einzige gewesen, die zwischen Ava und dem Rest der Familie hätte vermitteln können. Gina und Bella hatten ihre eigenen Familien und machten Karriere. Eine vorbestrafte Schwester beschmutzte nur den guten Namen der Familie Fitzgerald.
Ava ärgerte sich über die negativen Gedanken und versuchte energisch, ihrem Leben etwas Positives abzugewinnen. Immerhin war sie wieder in Freiheit, und sie hatte sogar einen Job. Einen richtigen Job! Noch immer konnte sie es kaum glauben. Als man sie für das Projekt zur Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft vorgeschlagen hatte, war sie zunächst skeptisch gewesen. Okay, sie hatte zwar einen ausgezeichneten Schulabschluss, aber keinerlei Erfahrung mit Büroarbeiten. Trotzdem gab man ihr bei AeroCarlton
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