Julia Festival 94
„Ob sie adoptiert wurde?“
Misty nickte. „Ja, aber ich habe sie nicht ausfindig machen können.“
Nancy kam mit einem Teetablett in den Händen herein, was eine willkommene Ablenkung ergab. Als sie wieder gegangen war, sagte Misty: „Ich weiß es zu schätzen, dass du zu mir gekommen bist und dass du ehrlich warst.“
„Das scheint seit einiger Zeit eine neue Gewohnheit von mir zu sein“, bekannte Oliver mit leichter Selbstironie. „Ich habe auch versucht, bei Jenny reinen Tisch zu machen, aber vorläufig ist sie nicht bereit, mir zuzuhören, was ich ihr nicht übel nehmen kann. Früher war sie immer für mich da …“
„Jetzt nicht mehr?“ Misty dachte an die Enthüllungen der Presse und wunderte sich nicht, dass die Ehe ihres Vaters gefährdet war.
„Nein, aber ich hoffe, dass sich das ändert.“ Der traurige Augenausdruck, mit dem Oliver das sagte, erweckte Mistys Mitleid. Er hatte schon so viel verloren. Innerhalb weniger Wochen war er von einem gefeierten und umschmeichelten Spitzenpolitiker zu einem Gegenstand des Abscheus, der Verdammung und Schadenfreude geworden. Auch noch Jenny zu verlieren überstieg womöglich seine Kräfte.
„Wenn sich der ganze Lärm gelegt hat, würde ich dich gern besser kennenlernen … falls du das willst“, sagte Oliver mit mehr Fassung. „Ich würde aber auch verstehen, wenn es dir dafür zu spät erscheint.“
Nachdem die entscheidenden Punkte geklärt waren, fühlte sich Misty in der Lage, noch weitere Fragen zu stellen. Sie erfuhr dadurch mehr über den Seelenzustand ihres Vaters, der nach der Trennung von Carrie jahrelang unter Schuldgefühlen gelitten hatte. Er bereute sein damaliges Verhalten so aufrichtig, dass Misty ihn beim Abschied fragte, ob er zu ihrer Hochzeit kommen wolle.
„Ist das dein Ernst?“, fragte Oliver überrascht. „Du würdest mich wirklich bei der Feier dulden? Dann komme ich gern.“ Ehe er ging, fügte er noch hinzu: „Ich werde mich möglichst unsichtbar machen.“
Sein Eifer rührte Misty, und sie winkte ihm lange nach.
Die erste richtige Begegnung mit ihrem Vater beschäftigte Misty nachhaltig, aber es gab noch so viel für die Hochzeit zu tun, dass ihr kaum Zeit zum Nachdenken blieb.
Während sie am späten Nachmittag zusah, wie die Floristin und ihre Assistenten die kleine Kirche am Ortsrand mit Blumen ausschmückten, überfiel sie eine unerklärliche Niedergeschlagenheit. Liebte sie Leone etwa nicht? Doch, sie liebte ihn abgöttisch. Woher kamen dann diese quälenden Schuldgefühle?
Zugegeben, Leone liebte sie nicht, aber er fand sie attraktiv und wollte in jeder Weise für ihr gemeinsames Kind sorgen. War das genug – für ihn und sie selbst? Seit Olivers Beichte drückten die Ähnlichkeiten zwischen ihrer eigenen Situation und der ihrer Mutter schwer auf ihr Gewissen und verletzten ihren Stolz. War sie nicht im Begriff, dasselbe zu tun, was ihre Mutter getan hatte?
Carrie war in der Hoffnung zu Oliver geflohen, dass er für sie und ihre Kinder die Verantwortung übernehmen würde. Er hatte das nicht getan, weil er Carrie nicht liebte. War diese ehrliche Entscheidung wirklich so verdammenswert? Wäre es besser gewesen, eine Frau zu heiraten, die ihm nichts bedeutete? Vor dieser entscheidenden Frage stand Misty jetzt selbst. Sie bedeutete Leone nichts und war trotzdem bereit, seine Frau zu werden. Das war falsch. Das war in jeder Hinsicht falsch.
Während Misty nach Hause fuhr, wurde sie von düsteren Vorahnungen gequält. Wie würde ihre Ehe in einigen Jahren aussehen? Was würde sie und Leone außer dem Baby dann noch verbinden? Er würde ihrer längst überdrüssig sein und es zutiefst bereuen, seine Freiheit einem moralischen Prinzip geopfert zu haben. Vielleicht würde er sie sogar hassen …
Der Gedanke war Misty unerträglich. Sie musste jetzt sehr stark sein. Sie musste mit Leone sprechen, bevor sie beide den größten Fehler ihres Lebens machten. Während der ganzen letzten Woche war er geschäftlich unterwegs gewesen, das hatte es ihr leicht gemacht, zu vergessen, was sie ihm mit der Hochzeit antat. Heute Abend wurde er im „Belstone House“ erwartet. Sobald er dort eingetroffen war, würde sie zu ihm fahren und mit ihm sprechen.
Doch es kam nicht dazu, denn als sie in die Auffahrt von „Fossetts“ einbog, standen zwei Sportwagen vor dem Haus – Leones roter und Flashs goldfarbener.
Flash kam zuerst heraus, um sie zu begrüßen. „Warum hast du Leone nicht gesagt, dass ich morgen dein
Weitere Kostenlose Bücher