Julia Festival 94
tauchte leise hinter ihr auf. Ein unangenehm vertrauliches Lächeln lag auf seinem Gesicht. „Hier entlang, bitte.“
Minos Gakis stand unter seinem eigenen schmeichelhaften Porträt, das an der Rückwand des hohen, hellen Arbeitszimmers hing. Er war groß und stämmig, litt aber noch sichtbar unter dem Gewichtsverlust, der eine Folge der Krebsbehandlung war. Seine Erkrankung war ein so gut gehütetes Geheimnis wie seine angebliche Genesung, aber die Falten hatten sich tiefer in sein aschgraues Gesicht gegraben. Schlagartig wurde Ione klar, dass er sich viel langsamer erholte, als man es bei einem so kräftigen und vitalen Mann erwartet hätte.
„Wie geht es dir, Daddy?“, fragte sie besorgt. Minos war wochenlang geschäftlich im Ausland gewesen, und sie sah ihn heute zum ersten Mal wieder.
„Ich ahne, dass man meine mitleidige und fürsorgliche Tochter in diesem Haus sehr vermissen wird“, antwortete Minos spöttisch.
Ione errötete und fragte sich vergeblich, wieso man sie vermissen würde. Eine unbestimmte Hoffnung stieg in ihr auf. Hatte ihr Vater ihr den Fluchtversuch endlich vergeben? Wollte er mit seinen Worten andeuten, dass sie in Zukunft freier leben würde?
„Nach all den Jahren kannst du endlich einmal von Nutzen für mich sein“, fuhr Minos ungerührt fort.
Ione erschrak. Wie dumm zu glauben, dass man ihr endlich erlauben würde, ein eigenes Leben zu führen! Wann hatte ihr Vater jemals nach ihren Wünschen gefragt oder versucht, ihr eine Freude zu machen? Dazu hätte er ein Herz haben müssen. Ein einziges Mal, am Sarg ihrer Mutter, hatte er eine menschliche Regung gezeigt. Für Ione war sie wenig wert gewesen. Sie hatte nur an die seelischen und körperlichen Qualen gedacht, denen die Tote zu ihren Lebzeiten ausgesetzt gewesen war.
„Ich habe einen Ehemann für dich gefunden“, verkündete Minos und machte eine wirkungsvolle Pause.
Die Eröffnung erschütterte Ione zutiefst, aber sie unterdrückte jede Reaktion. Ein Ehemann. Warum wollte ihr Vater sie verheiraten? Es musste einen Grund dafür geben, denn er tat nichts, ohne einen Nutzen davon zu haben.
Tausend Fragen drängten sich auf, aber Ione äußerte keine einzige. „Rede, wenn du gefragt wirst“, hatte eine der Grundregeln gelautet, mit denen sie groß geworden war. „Eine respektvolle Tochter stellt ihren Eltern keine Fragen.“
Das Schweigen wurde immer drückender, während Ione auf weitere Erklärungen ihres Vaters wartete. Ein Ehemann. Warum hatte sie eigentlich nie mit dieser Möglichkeit gerechnet? Weil sie davon ausgegangen war, dass ihr Vater sie nicht aus seiner Nähe lassen würde, um sie weiter nach Belieben quälen zu können und ihre Abhängigkeit zu genießen.
„Wäre Cosmas noch am Leben, hätte ich den Gedanken an eine solche Ehe weit von mir gewiesen“, fuhr Minos mit der für ihn typischen brutalen Offenheit fort. „Aber das Flugzeugunglück ist jetzt ein Jahr her, und Cosmas wird nicht wieder lebendig. Ich habe nur noch dich, und eines Tages wirst du ‚Gakis Holdings‘ erben.“
Diesmal war der Schock so groß, dass Ione unwillkürlich die Lippen öffnete. „Ich … soll dich beerben?“, hauchte sie.
Minos lachte bitter. „Wer ist denn sonst noch übrig? Vor dem Gesetz bist du meine Tochter, obwohl kein Tropfen meines Bluts in deinen Adern fließt.“
Zum Glück nicht, durchfuhr es Ione. Sie waren nicht blutsverwandt, und sie musste nicht fürchten, auch nur eine seiner schlechten Eigenschaften geerbt zu haben.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie wollte „Gakis Holdings“ nicht erben. Das riesige internationale Unternehmen war ihrem Vater zum Fluch geworden und hatte ihn den normalen Sterblichen entrückt. Ohne Bedenken vernichtete er jeden, der sich ihm entgegenstellte, und sein Einfluss reichte gefährlich weit. Immer wieder hatte er von der Geldgier der Menschen profitiert, denn er bestach jeden, der etwas über seine korrupten Geschäftsmethoden oder seine Familientyrannei herausfand.
Aber nur nichts sagen … nur nicht widersprechen. Ein falsches Wort, und ihr Vater würde sie mitleidlos quälen und verletzen. Er kannte keine Gnade. Unter seiner Faust wurde jeder zu einem Feigling, zu einem wimmernden Häufchen Elend. Selbst wenn sie hätte kämpfen wollen – die Einsicht, dass sie den Kampf nicht gewinnen konnte, war stärker.
„Ich bin beeindruckt“, stellte Minos in einem Ton fest, der Ione frösteln ließ. „Du kennst jetzt deinen Platz im Leben. Das ist gut, denn ich
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