Julia Festival 94
brachte.
„Dein Vater hat aufregende Neuigkeiten für dich“, teilte sie Ione kurz mit.
„Ich bin gespannt, sie zu hören“, antwortete Ione und folgte ihrer Tante durch den Vorraum des Schlafzimmers zur Treppe.
„Tatsächlich?“, fragte Kalliope bissig. „Eine undankbare Tochter wie du dürfte gar nicht so viel Glück haben.“
Ione horchte auf. Wenn ihre Tante so verärgert war, durfte sie für sich etwas Gutes erhoffen. Trotzdem spürte sie den unangenehmen Druck im Magen, wie immer, wenn sie zu ihrem Vater gerufen wurde. Es war selten, dass er den Wohltäter spielte. Ione hatte eher den Verdacht, dass es ihm heimlich Vergnügen bereitete, ihr einen Wunsch abzuschlagen. Er liebte sie nicht und hatte ihr kurz nach Amandas Tod mit hämischen Worten mitgeteilt, warum sie adoptiert worden war.
Ein Jahr nach der Hochzeit hatte Amanda einen Sohn, Cosmas, zur Welt gebracht, war danach aber nicht wieder schwanger geworden. In der Hoffnung auf einen zweiten Sohn hatte sich Minos der landläufigen Meinung angeschlossen, dass eine Frau mit einem Adoptivkind leichter schwanger würde, weil ihr Wunsch nach einem Baby erfüllt sei. Sie müsse sich nicht so verkrampft um eine Empfängnis bemühen, und diese würde daher mit größerer Wahrscheinlichkeit eintreten.
In Iones Fall hatte diese Bauernweisheit leider nicht geholfen. Amanda war nicht wieder schwanger geworden, und da Minos seine Adoptivtochter immer nur als Mittel zum Zweck betrachtet hatte, war es nie zu einem zärtlicheren Verhältnis gekommen.
Kalliope ließ Ione in der mit Marmorfliesen ausgelegten Halle stehen und zog sich zurück. Sie kannte die Gewohnheit ihres Bruders, Mitglieder des Hauses dringend rufen und dann unbegrenzt vor seinem Arbeitszimmer warten zu lassen.
Ione ging zum Fenster, aber der Anblick der Bucht, über der die Villa lag, tröstete sie wenig. Tiefblau wölbte sich der Himmel über dem Wasser der Ägäis, auf das die Sonne goldene Blitze warf. Lexos war eine bezaubernde Insel, und die weiträumige, prachtvolle Villa bot jede Bequemlichkeit, die man sich nur wünschen konnte. Trotzdem fühlte sich Ione darin wie eine Gefangene in ihrer Zelle.
Die Freiheit, nach der sie sich brennend sehnte, lag so fern wie eh und je. Seit vier endlosen Jahren hatte sie die Insel nicht verlassen dürfen, denn ihr Vater traute ihr nicht mehr. Eine dumme Entscheidung, damals heimlich fortzulaufen … eine verpasste Gelegenheit! Der Plan war nicht durchdacht gewesen, und sie hatte ihren Vater nur unnötig auf ihre heimlichen Absichten aufmerksam gemacht.
Ione war damals in Athen in stationärer zahnärztlicher Behandlung gewesen und hatte die Klinik ohne große Schwierigkeiten verlassen können. Sie war mit einem Taxi zum Flughafen gefahren, hatte aber vergessen, sich rechtzeitig nach den internationalen Flügen zu erkundigen, und nicht den Mut gehabt, einen Platz in der erstbesten Maschine zu buchen. Sie war so dumm gewesen, auf den Abflug nach London zu warten – Zeit genug für die Leibwächter ihres Vaters, sie aufzuspüren und zurückzubringen.
Noch jetzt lief es ihr eiskalt über den Rücken, wenn sie an den Empfang ihres wutbebenden Vaters dachte, der nicht im Traum damit gerechnet hatte, dass sie seiner Tyrannei eines Tages entfliehen wollen würde. Amanda hatte sich nie dazu aufraffen können. Nicht, nachdem ihr durch die verbalen und tätlichen Angriffe ihres Mannes aller Mut und alle Entschlusskraft genommen worden waren.
„Wohin sollte ich fliehen?“, hatte sie einmal gefragt, als Ione ihr geraten hatte, aus der Hölle ihrer Ehe auszubrechen und woanders das Glück zu suchen. „Wie sollte ich leben? Dein Vater würde mich in jedem Winkel dieser Erde finden und nie wieder fortlassen. Dazu liebt er mich zu sehr.“
Liebe, dachte Ione bitter. Liebe hatte ihre schöne, angebetete Adoptivmutter zu einem Opfer gemacht. Liebe war Amandas bevorzugte Entschuldigung für alle Härte gewesen, die sie ertragen musste, für die Arbeitswut ihres Mannes, unter der sie unsäglich litt, für seine unberechenbaren Launen und für ihre eigene Dummheit. Zum Schluss hatte sie sich selbst alle Schuld gegeben und ihre lange, auszehrende Krankheit als Zumutung für ihren Mann und ihren Sohn bezeichnet.
Tränen brannten hinter Iones Lidern, als sie daran dachte, wie sehr ihr die sanfte und geduldige Amanda fehlte. Nur in ihrer Liebe hatte sie Schutz vor den brutalen Angriffen gefunden, denen sie …
„Miss Gakis?“ Der Privatsekretär ihres Vaters
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