Julia Festival 94
einem englischen Geschäftsmann – ein Gespräch angeknüpft und die Versicherung erhalten, sie beherrsche seine Sprache fließend und spreche höchstens mit einem kleinen, übrigens sehr charmanten Akzent.
Ione fuhr mit dem Lift bis zum angegebenen Stockwerk und blieb vor der Wohnungstür stehen. Man hatte ihr in Paris zwar einen Zweitschlüssel gegeben, aber sie zögerte, ihn zu benutzen, und klingelte lieber. Immerhin konnten Angestellte oder Gäste in der Wohnung sein, die sie nicht einfach überfallen wollte.
Die Tür wurde schwungvoll geöffnet, und es erschien eine Frau mit üppigem kastanienroten Haar und einer sehr weiblichen Figur, die durch den modischen schwarzen Hosenanzug vollendet zur Geltung kam. Auf ihrem tadellos zurechtgemachten Gesicht lag ein strahlendes Lächeln, das sofort verschwand, als sie sah, wer geklingelt hatte.
Ione war überrascht, nahm aber an, dass die Frau eine Mitarbeiterin von Alexio war. „Ich bin Ione Christoulakis“, stellte sie sich vor und betrat unaufgefordert den Flur.
„Pascale Fortier.“ Die hübsche Französin ließ die Tür hinter Ione sanft ins Schloss fallen.
„Arbeiten Sie für meinen Mann?“ Ione ging weiter ins Wohnzimmer und sah sich enttäuscht um. Sie hatte mehr erwartet als einen Raum, der in seiner Nüchternheit an ein Hotelzimmer erinnerte. Dann fiel ihr ein, dass die Wohnung der Firma gehörte und dass Pascales Anwesenheit ein romantisches Abendessen zu zweit ohnehin unmöglich machte.
Als Ione keine Antwort auf ihre Frage erhielt, drehte sie sich um. „Nun? Arbeiten Sie für meinen Mann?“
„Nein“, antwortete Pascale langsam. „Das tue ich nicht.“ Ihr Gesicht hatte sich auffällig verändert und einen harten, abweisenden Ausdruck angenommen. „Werden Sie von Alexio erwartet?“
„Nein.“ Ione spürte die ablehnende Haltung der Französin und verlor ebenfalls ihre Unbefangenheit. „Wohnen Sie hier?“
Pascale zuckte die hübschen Schultern und lächelte boshaft. „Tiens. Ich furchte, ich muss packen. Eine Ehefrau hat Vorrang vor der Geliebten.“
Der Geliebten? Iones Herz klopfte zum Zerspringen, und das Atmen wurde ihr so schwer, dass sie zu ersticken glaubte. Doch dann, im Bruchteil einer Sekunde, begriff sie, was los war. Deshalb hatte Alexio behauptet, er würde keine Zeit für sie haben und das Apartment sei zu ungemütlich. Wie dumm von ihr. Wie unglaublich dumm!
Alexio hatte kein Interesse an ihrer Begleitung gehabt, weil er die freien sechsunddreißig Stunden anders hatte verbringen wollen, Ione hatte das Gefühl, von den Wänden erdrückt zu werden und den Boden unter den Füßen zu verlieren. Trotzdem zwang sie sich, Pascale genauer anzusehen. Eine zweite Crystal Denby, ohne Frage. Groß, schön, dunkelhaarig und überaus selbstsicher – genau der Typ, den Alexio beim weiblichen Geschlecht zu bevorzugen schien. Wie hatte sie jemals annehmen können, dass eine kleine, zierliche Blondine ihn auch nur vorübergehend zu fesseln vermochte?
Ohne ein weiteres Wort, nur von ihrem Stolz getrieben, verließ Ione die Wohnung. Die Begegnung mit Alexios Geliebten hatte ihr alle Kraft genommen und sie innerlich völlig zerrissen. Einerseits suchte sie verzweifelt nach einer harmlosen Erklärung für Pascales Anwesenheit in der Wohnung, andererseits fand sie sich bereits damit ab, dass Alexio die Absicht gehabt hatte, die Nacht in den Armen einer anderen Frau zu verbringen. Hatte nicht ihr eigener Vater vorausgesagt, dass Alexio ihr nicht treu sein würde?
Die Leibwächter erwarteten Ione im Erdgeschoss und begleiteten sie in die Tiefgarage. Sie wusste genau, was ihre Familie in diesem Fall von ihr erwartete: dass sie nach Paris zurückflog, ihre Reise nach London verschwieg und so tat, als wäre nichts passiert. Man hatte ihr beigebracht, mit dieser Doppelmoral zu leben. Während eine Frau auf ihren tadellosen Ruf zu achten hatte, blieb es einem Mann überlassen, Nebenwege zu gehen, solange er dabei diskret war. Auch Amanda hatte Minos’ Untreue übersehen, soweit es ihr möglich gewesen war, aber in Ione steckte nichts von dieser falschen Demut.
So verzweifelt sie auch war, Trotz und Zorn meldeten sich bereits in ihr. Wann hatte sie eigentlich vergessen, dass ihre Ehe mit Alexio nur eine geschäftliche Abmachung war? Wann hatte sie vergessen, welchen Ruf er bei Frauen besaß? Ihre Liebe hatte sie blind gemacht und mit falschen Hoffnungen erfüllt. Zurück blieben Demütigung und Schmerz.
Es wurde Zeit, ihre Fehler zuzugeben,
Weitere Kostenlose Bücher