Julia Festival 94
in der Schublade seines Nachttisches? Auch dafür fand Ione keine Erklärung. Sie hatte mit ihrer Indiskretion nichts erreicht, sondern sich selbst und Alexio nur die letzte Nacht in Paris verdorben.
In der Hoffnung, dass Alexio bald zurückkommen und ihre Entschuldigung annehmen würde, ging Ione ins Wohnzimmer hinunter. Nachträglich erschreckte es sie, wie leichtfertig sie die Harmonie ihrer ersten Ehewochen aufs Spiel gesetzt hatte. Es war immer dasselbe. Für die Menschen, die ihr wirklich etwas bedeuteten, zählte sie erst an zweiter Stelle.
Wie ein roter Faden zog sich dieses Verhängnis durch ihr ganzes Leben. Cosmas hatte wirklich das Herz seiner Eltern besessen, sie selbst war nur eine Waise für sie gewesen, die ein Heim brauchte und sich am Ende Amandas liebendes Mitleid errungen hatte.
Jetzt war es wieder so. Alexio hatte sie geheiratet, aber sie war nur die zweite Wahl, weil Crystal, die Frau seiner Träume, nicht überlebt hatte. Obwohl sie das wusste, hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt und auf das verzichtet, was bisher ihr wichtigstes Ziel, die einzige Kraftquelle ihres Lebens gewesen war: die Wiedervereinigung mit ihrer Zwillingsschwester.
Eines Tages würde sie vielleicht den Mut finden, die Warnung ihres Vaters zu vergessen und Alexio ihre wahre Herkunft zu offenbaren. Vielleicht würde er dann verstehen, wie wichtig es für sie war, ihre Schwester Misty wiederzufinden. Warum zögerte sie noch damit? Warum hatte sie sich Alexio nicht längst anvertraut?
Die Antwort war einfach und machte Ione bewusst, wie unsicher sie war. Sie fürchtete, dass Alexio sie verachten würde, wenn er erfuhr, dass sie nur adoptiert und keine geborene Gakis war. Selbst Cosmas, der sie doch geliebt hatte, war voller Mitleid mit ihr gewesen, weil sie nicht wirklich zur Familie gehörte.
Doch zunächst musste sie sich mit einer anderen Wahrheit abfinden: Alexio hatte sie aus Abscheu vor ihrer Gehässigkeit verlassen, und das war viel, viel schlimmer.
Als Alexio einige Stunden später das Wohnzimmer betrat, lag Ione in einem äußerst schmeichelhaften Seidennegligé auf der Couch und schlief fest. Sie wurde erst wach, als er sie auf die Arme nahm, um sie ins Schlafzimmer hinaufzutragen.
Sie öffnete blinzelnd die Augen, sah Alexio lächeln und spürte, wie Wärme und Leben mit ihm zurückkehrten. Sie wollte etwas sagen, aber ihr fiel nur ein, was sie kurz vor dem Einschlafen gedacht hatte.
„Was würdest du sagen, wenn ich ein Bild von Yannis in unserem Schlafzimmer hätte?“
Alexio blieb wie angewurzelt stehen. „Ich würde es nicht dulden“, antwortete er, ohne nachzudenken. Dann begriff er, was wirklich hinter der Frage steckte. Seine Wangen färbten sich dunkler, und er setzte Ione hart ab.
„Ich hätte das nicht fragen dürfen“, gab sie zu, obwohl sie sich insgeheim über seine Reaktion freute.
Alexio war wütend, weil er nicht aufgepasst und falsch reagiert hatte. Um nichts in der Welt hätte er jetzt zugegeben, dass er von der Oper kam, wo er für das kommende Wochenende zwei Plätze hatte reservieren lassen, um Ione für den heutigen Abend zu entschädigen.
„Lass uns nach oben gehen“, sagte er nur und stürmte die Treppe hinauf.
Ione folgte ihm, so schnell sie konnte. Sie hatte sich entschuldigen wollen und alles nur noch schlimmer gemacht.
„Alexio …“
„Ich habe einen Flug für sechs Uhr früh gebucht“, unterbrach er sie und begann, sich auszuziehen. „Warte mit deinen Erklärungen, bis ich zurück bin.“
Deutlicher konnte Alexio nicht sagen, dass das Thema „Crystal“ im Moment tabu war. Ione fügte sich darein, zog rasch ihr Negligé aus und schlüpfte unter die Bettdecke.
„Ich möchte dir noch etwas anderes erklären“, sagte sie, nachdem sie tief durchgeatmet hatte. „Damit kann ich nicht warten, denn sonst verliere ich den Mut.“
Alexio sah sie überrascht an, sagte aber nichts.
„Es handelt sich um ein Familiengeheimnis, das Dad lieber für sich behalten hätte. Er möchte nicht, dass andere davon erfahren.“ Ione machte eine kurze Pause und fuhr dann schnell fort: „Ich bin keine geborene Gakis. Ich wurde nur von der Familie Gakis adoptiert.“
Es war Alexio anzusehen, dass er ihr kein Wort glaubte. „Hast du getrunken?“, fragte er misstrauisch.
Ione sprang aus dem Bett, lief ins Ankleidezimmer und kam mit einer zerknitterten Schwarz-Weiß-Fotografie zurück, auf der ein Baby zu sehen war. „Sie heißt Misty und ist meine
Weitere Kostenlose Bücher