Julia Festival Band 0103
deren altmodische Vorbehalte, mit ihren Töchtern über Erwachsenwerden, Liebe und Sex zu reden. Amber war fassungslos gewesen, als sie das erste Mal ihre Periode bekommen hatte, und sie hatte sich geschämt, weil ihre Brüste plötzlich voll und rund wurden. Eine natürliche Scheu hatte sie davon abgehalten, ihre Mutter um einen BH zu bitten, und vor den lüsternen Blicken der Männer aus der Nachbarschaft hatte sie regelrecht Angst gehabt.
„Es war eine Welt“, erklärte sie Paul Millington, „in der Mädchen mit sechzehn schwanger und daraufhin sitzen gelassen wurden. Die meisten Männer waren arbeitslos oder hatten nur einen unsicheren, schlecht bezahlten Job und suchten Vergnügen, die sie kostenlos haben konnten. Ein hübsches Mädchen musste sich nachdrücklich wehren können, um sich zudringliche Freier vom Hals zu halten.“ Vor allem, wenn das Mädchen nicht nur hübsch, sondern eine ausgesprochene Schönheit war.
Amber hatte schnell gelernt, sich zu tarnen. Sie trug eine unvorteilhafte Frisur und verzichtete auf Make-up und gut sitzende Kleidung. Zu einer Zeit, in der sich ihre Freundinnen in enge Jeans und knappe T-Shirts zwängten, trug Amber weite Blusen und lange Röcke, die an Umstandsgarderobe erinnerten. Ursula, Ambers Schwester, hatte eine andere Methode gewählt, um sich die Männer vom Leib zu halten: Sie wurde dick und dicker.
„War es nicht zermürbend, sich dauernd wehren zu müssen? Gerieten Sie nie in Versuchung nachzugeben?“, fragte Paul Millington, immer noch auf der Suche nach einer reißerischen Geschichte.
„Nein.“ Amber lachte. „Ich habe die Männer erst gar nicht so nah an mich herankommen lassen. Ich habe fest daran geglaubt, dass das Leben etwas Besseres für mich bereithält als die schäbige kleine Wohnung in dem Londoner Armenviertel. Mit sechzehn bin ich ausgezogen.“
„Mit einem ausgezeichneten Schulabschluss?“
Amber lachte. „Soll das ein Witz sein? Die Schule, die ich besucht habe, hatte nicht das Ziel, den Jugendlichen Bildung und Wissen zu vermitteln. Die Lehrer waren schon froh, wenn ihre Schüler den Unterricht besuchten, anstatt sich auf der Straße herumzutreiben.“
Paul blätterte in seinen Unterlagen. „Aber Sie haben sich doch erst mit knapp zwanzig bei Finns Agentur vorgestellt. Was macht ein Mädchen ohne abgeschlossene Ausbildung vier Jahre lang?“
„Sie sucht sich einen Job mit Kost und Logis, normalerweise im Hotel. Und genau das habe ich auch getan. Ich habe als Zimmermädchen, Empfangsdame und Bedienung gearbeitet. Die Bezahlung ist schlecht, aber man hat ein eigenes Zimmer und wohnt direkt in der City von London.“
„Clever!“ Er schenkte sich wieder ein. „Und Sie haben das Beste aus dem Großstadtleben gemacht, nehme ich an.“
„Ich habe es versucht. Ich habe alles unternommen, was nichts kostete. Museen und Gemäldegalerien waren damals meine zweite Heimat.“
„Wie aufregend“, bemerkte Paul Millington ironisch.
„Ich fand es schön“, verteidigte sich Amber. „Außerdem habe ich auch viel gelesen und konnte so meine zahlreichen Wissenslücken schließen.“
„Und dann?“
Amber zuckte die Schultern. „Immer wieder sagten mir die Leute, was für ein hübsches Gesicht ich hätte …“
„Und das ärgerte Sie?“
„Nein, natürlich nicht, aber es ließ mich unzufrieden werden und mit meinem Schicksal hadern. Die Freude darüber, endlich in den eigenen vier Wänden zu wohnen, verblasste langsam, und mir wurde immer stärker bewusst, wie hart und lang mein Arbeitstag war und wie wenig Geld ich dafür bekam. Mein Zimmer kam mir nicht länger wie ein kleines Himmelreich, sondern eher wie ein Gefängnis vor.“
Amber musste wieder daran denken, wie schwer es für sie als Zimmermädchen gewesen war, die reichen Geschäftsleute auf Distanz zu halten. Diese Männer waren felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie mit ihren dicken Bäuchen und prallen Geldbörsen für ein hübsches und aufgewecktes, aber mittelloses Mädchen unwiderstehlich seien.
Das leise Summen des Rekorders in dem sonst völlig stillen Raum hatte eine fast hypnotische Wirkung auf Amber. Sie empfand es als befreiend, so offen über ihre Vergangenheit sprechen zu können.
„Mir wurde klar, dass ich aufpassen musste, wenn ich nicht das gleiche Schicksal wie meine Mutter erleiden wollte. Und ich hatte ihr gegenüber einen entschiedenen Vorteil: Ich war keine Witwe mit zwei Kindern, für die ich sorgen musste. Ich war also nicht gezwungen,
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