JULIA FESTIVAL Band 76
will, und ich habe mir extra vorgenommen, bloß kein Glas in der Hand zu halten, damit ich nichts verkleckere.“ Sie schaute auf die Pfütze am Boden. „Habe ich Sie etwa erwischt?“
Jonathan wusste, dass ihm fast alle jungen Frauen der Stadt im heiratsfähigen Alter schon einmal vorgestellt worden waren, und er hatte ein gutes Personengedächtnis. Doch dieses Mädchen hatte er noch nie gesehen.
Sie war etwa mittelgroß, hellhäutig und hatte tiefgrüne Augen. Ihre blonden Haare trug sie in einer einfachen Hochsteckfrisur, die von einem lächerlichen Diadem gekrönt wurde. Eine Aura von Unschuld umgab sie. Er hätte schwören können, dass sie eine Pfarrerstochter vom Land war, wenn er sie nicht hier getroffen hätte.
Er fühlte an seinem Jackett. Es war trocken. „Knapp daneben.“
Sie presste eine Hand an ihre Brust. „Gott sei Dank. Es wäre mir furchtbar peinlich gewesen.“ Sie schwenkte ihr nun leeres Glas. „Aber Weißwein gibt wenigstens keine Flecken, oder?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ach, ich rede lauter Unsinn. Das kommt nur davon, weil ich ganz nervös bin, dass ich mit Ihnen spreche. Und so ungeschickt.“
Sie unterbrach ihren Redefluss und holte Luft. „Sie sind nicht verkleidet?“
Er blickte an seinem dunklen Smoking herunter. „Nein.“ Sein Blick richtete sich wieder auf sie, ihr Ballkleid, das Diadem, ihre großen, fragenden Augen. „Sie müssen Cinderella sein.“
„Beinahe. Cynthia.“ Sie lächelte ihn scheu an. „Und Sie sind Jonathan Steele. Ich habe Ihr Bild in den Zeitungen gesehen. In Farbe sehen Sie noch besser aus als in Schwarzweiß.“
„Wie schmeichelhaft.“
Sie sah sich um, dann blickte sie wieder ihn an. „Haben Sie schon bemerkt, wie die Leute Sie anstarren? Ich weiß nicht, ob das an Ihrem guten Aussehen liegt oder daran, dass Sie ein reicher, berühmter Mann sind.“
Ein Blick in ihre unschuldigen Augen verriet ihm, dass sie es ganz ohne Hintersinn gesagt hatte – ohne ihm schmeicheln zu wollen.
„Vielleicht sehen die Leute Ihretwegen her.“
Sie winkte ab. „Aber nein, das ist doch lächerlich. Sie sind der Ballkönig.“
„Sie tragen ein Diadem. Also müssen Sie auch eine königliche Hoheit sein.“
Cynthia lächelte verschmitzt. „Natürlich. Ich bin die Prinzessin aus Nimmerland.“ Sie stellte das Glas ab und machte einen Hofknicks. „Es ist ein kleines Königreich am Rande der Stadt. Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört?“
Jonathan hatte die letzten beiden Monate damit verbracht, Nachforschungen darüber anzustellen, wer seine Firma um Millionen erleichtert hatte. Sein nächster Verwandter hatte ihn gerade wieder abblitzen lassen und verweigerte ihm, wie immer, auch nur die geringste Unterstützung. Er war enttäuscht und ausgelaugt. Doch plötzlich hatte er keine Lust mehr, den Ball jetzt schon zu verlassen. Sein Haus war kalt und leer, und die Vergangenheit kam aus allen Ecken und Enden hoch. Und jetzt war diese rätselhafte Cynthia aufgetaucht – vielleicht das letzte unschuldige Wesen auf diesem Planeten. Er wollte wissen, wie sie die Welt sah – welche Eissorte sie am liebsten aß, wer noch Wein auf andere Leute gekleckert hatte und wie er es schaffte, sie nervös zu machen.
Das Orchester spielte einen Walzer. Jonathan verbeugte sich förmlich. „Darf ich um diesen Tanz bitten, Eure Hoheit?“
Cynthia lächelte und reichte ihm die Hand. „Okay, aber ich muss Sie warnen, dass Ihre Zehen in höchster Gefahr sind. Das Königreich konnte sich nämlich keinen Tanzlehrer leisten.“
Er zog sie an sich und genoss ihre Wärme an seiner Brust. Von nahem gesehen, verlor ihr Modeschmuck an Glanz, doch das war ihm vollkommen gleichgültig. Sie war eine Frau aus Fleisch und Blut, und er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal das Vergnügen gehabt hatte, ausgiebig zu tanzen.
Das kann alles nicht wahr sein, dachte Cynthia, als sie mit Jonathan durch den Saal schwebte. Sie musste sich zurückhalten, um nicht laut zu jubeln. Zum ersten Mal in ihrem Leben waren ihre Wünsche in Erfüllung gegangen.
Sie hatte gehofft, Jonathan Steele kurz sprechen und ihm für alles danken zu können, was er für sie getan hatte, ohne es zu wissen. Und jetzt hielt er sie in seinen Armen und tanzte mit ihr. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie Angst hatte, in Ohnmacht zu fallen.
„Erzählen Sie mir von Ihrem Leben im Königreich Nimmerland“, sagte Jonathan, als sie an einem Dutzend Paare auf dem Parkett vorbeitanzten.
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