JULIA FESTIVAL Band 76
sprechen kann.“
Jonathan starrte das Baby an. Er konnte etwas von seinem Bruder in dem Kind erkennen. Oder war es sein eigener Vater? Irgendwie hatte es David trotz all seiner Fehler geschafft, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Oder, um es altmodisch zu sehen, jemanden zu haben, der seinen Namen trägt.
„Wie hat er sich eingewöhnt?“, fragte er und zeigte auf Colton.
„Nicht schlecht, unter diesen Umständen.“ Cynthia rieb zärtlich ihre Nase an Coltons Kopf. „Er ist ein Schatz. Manche Babys bauen nur eine Verbindung zu ihren Eltern auf und gewöhnen sich nur schwer an andere Menschen, doch Colton ist nach allen Seiten offen. Er ist ein gesundes und fröhliches Kind. Eines, das man leicht ins Herz schließt.“ Cynthia hielt Colton Jonathan vor die Nase. „Willst du ihn mal nehmen?“
Jonathan versteifte sich und trat einen Schritt zurück. „Nein.“
„Aber irgendwann musst du es doch mal tun.“
„Dafür bezahle ich doch dich.“
Sie kräuselte die Nase und sah Colton an. „Onkel Jonathan ist sehr störrisch.“
Jonathan ignorierte ihren Kommentar und wandte sich zum Gehen. „Die Beerdigung ist am Samstag. Du hast gesagt, dass Colton dabei sein soll. Bist du immer noch dieser Ansicht?“
„Ja. Er wird sich nicht daran erinnern, doch wenn er älter ist, wird er wissen wollen, ob er dabei war.“
„Sie findet um ein Uhr nachmittags statt.“
„Wir werden da sein.“
„Du musst nicht hingehen. Lucinda will kommen.“
„Es macht mir nichts aus“, sagte sie. „Ich will für euch beide da sein.“
Er konnte es ihr kaum glauben. Eines Tages würde auch Cynthia lernen, dass es ihr das Leben zur Hölle machte, wenn sie Mitgefühl für ihre Menschen zeigte. Er hoffte, dass er ihr diese Lektion nicht erteilen musste.
Die beiden Gräber lagen am Hang. Cynthia schluckte die Tränen hinunter, die in ihren Augen brannten. Sie weinte nicht um Lisa und David Steele – schließlich hatte sie die beiden nicht gekannt. Ihre Trauer rührte von der Erinnerung an Franks Beerdigung und von der Erkenntnis, dass Colton seine Eltern nie kennen würde.
Sie nahm das Baby noch fester in den Arm, und Colton krähte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jonathan leise, der an ihrer Seite stand.
„Mir geht’s gut. Eigentlich sollte ich dir diese Frage stellen. Wie stehst du das Ganze hier durch?“
Er zuckte mit den Schultern. „Gut.“
Die Trauerfeier ging zu Ende, und die Menschen traten ans Grab, um die abschließenden Worte des Pfarrers zu hören. Cynthia betrachtete die versammelte Menge an. Es war ein kühler, klarer Novembertag. Jedermann war korrekt in Schwarz gekleidet, doch Cynthia sah nur wenige Anzeichen echter Trauer. Niemand weinte. Soweit sie es beurteilen konnte, waren hier hauptsächlich Geschäftspartner versammelt. Außer Jonathan und Colton gab es keine Familienmitglieder und nur wenige Freunde.
„Wo sind denn seine Freunde?“, fragte sie leise.
Jonathan warf ihr einen kurzen Blick zu. „Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt Freunde hatte. Und wenn, dann hätte ich sie sowieso nicht gekannt. David war sieben Jahre jünger als ich, und wir haben nichts zusammen unternommen.“
Cynthia nickte und sah zu Lucinda. Ihr fiel ein, was die Haushälterin über David gesagt hatte.
Wie konnten zwei Brüder nur so verschieden sein?
Der Pfarrer begann zu sprechen. Colton war ganz still, als ob er die Feierlichkeit des Zeremoniells erkannte. Nun hatten er und Jonathan nur noch einander. Cynthia schwor, dass sie den beiden dabei helfen wollte, enge Bande zu knüpfen. Jonathan verdiente es, von jemandem geliebt zu werden.
David Steeles Haus war so kühl und modern, wie Jonathans Haus altmodisch und heimelig war. Während Cynthia sich in Jonathans Heim sofort wohl gefühlt hatte, lief ihr hier ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Weiß getünchte Wände reichten zwei Stockwerke hoch. Die einzigen Farbkleckse kamen von modernen abstrakten Gemälden. In der Mitte der großen Eingangshalle stand eine dicke runde Marmorsäule, deren Spitze von einer schwarzen grinsenden Kreatur – einer Mischung aus Teufel und Ungeheuer – gekrönt wurde. Die weiß gefliesten Böden ließen die Diele noch größer erscheinen.
Jonathan ging durch einen Bogengang in ein anderes Zimmer. Cynthia folgte ihm und fand sich in einem nach oben offenen Wohnzimmer wieder. Große Fenster erlaubten einen Blick über die Stadt und die angrenzenden Berge. Auch hier waren die Wände weiß gestrichen, und die
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