JULIA FESTIVAL Band 76
mein Stiefvater starb, war ich es, die die Familie zusammenhielt. Ich bin schon seit langem eine erwachsene Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht.“
Sein Blick bekam einen gequälten Ausdruck. „Warum hast du dann keine Angst vor mir?“
Damit ging er aus dem Zimmer und ließ Cynthia allein zurück, die nur noch das wilde Klopfen ihres Herzens in dem ruhigen Zimmer hören konnte.
Cynthia blätterte durch den Stapel Rechnungen, die sie aus dem Büro mitgebracht hatte. Sie musste ein paar Telefongespräche führen. Es war sinnvoll, den Morgen im Büro zu verbringen, wo sie ungestört arbeiten konnte, doch gegen halb elf wurde sie unruhig.
Nun stieg sie wieder die Treppen zu Jonathans Haus hoch und sagte sich, dass sie verrückt sein musste. Warum in aller Welt kehrte sie voreilig hierher zurück? Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie sich dadurch näher bei Jonathan fühlte. Außerdem hatte sie Sehnsucht nach Colton.
„Du weißt doch, dass du dich nicht an ein Kind gewöhnen sollst“, sagte sie ernst zu sich selbst. „Das gibt nur Ärger.“
„Lucinda, ich bin es!“, rief sie laut. „Ich bin zurück.“
Die Haushälterin tauchte am oberen Treppenabsatz auf, das Baby auf ihrem Arm. „Wir spielen gerade in Coltons Zimmer. Er mag diesen großen Plastiklastwagen, den Sie ihm gekauft haben. Ich glaube, Jungen liegt das einfach im Blut.“ Sie kitzelte Coltons Kinn. „Du bist ein großer Junge, der mal zu einem starken Mann heranwachsen wird, nicht wahr, mein Süßer?“
Colton zappelte und krähte fröhlich. Er war immer gut gelaunt und freute sich über die große Aufmerksamkeit, die er bei Lucinda und Cynthia genoss.
Cynthia blickte an sich herunter. „Ich muss noch kurz mein Kostüm ausziehen und meine Arbeit fertig machen, die ich mit nach Haus gebracht habe. Soll ich ihn nehmen, oder …“
Lucinda winkte ab. „Ich passe auf ihn auf. Sie wissen doch, wie gern ich das mache.“ Sie drehte sich um die eigene Achse und hielt Coltons Arm in Tanzhaltung. „Ich dachte, ich könnte ihm den Tango beibringen. Frauen stehen auf Männer, die Tango tanzen können.“
Cynthia lachte lauthals, als sie die Treppen hochging. Hoffentlich wusste Jonathan, was er an seiner Haushälterin hatte!
Sie ging an der älteren Frau vorbei, die noch immer mit dem Baby tanzte. In ihrem Zimmer zog sie schnell Jeans und ein Sweatshirt an und setzte sich an den kleinen Schreibtisch am Fenster. Eine Stunde später hatte sie alle Rechnungen bearbeitet, ihre Unterlagen aktualisiert und die meisten Telefongespräche erledigt.
Ihre Gedanken schweiften zu Jonathan ab. Sie musste an den Kuss am Abend zuvor denken und wie schön es gewesen war, in seinen starken Armen zu liegen. Und sie musste daran denken, was er ihr über seine Familie erzählt hatte.
Sie fragte sich, warum sie keine Angst vor ihm hatte oder sich von ihm einschüchtern ließ. Vielleicht lag es daran, dass sie dem Tod ins Auge gesehen hatte. Oder daran, dass sie der Überzeugung war, als einziger Mensch tief in sein Inneres blicken zu können.
Sie hatte noch nie mit einem Mann geschlafen. Um ehrlich zu sein, hatte sie noch nie wirklich das Bedürfnis danach gehabt. Doch bei Jonathan war es ganz anders.
Ein leises Klopfen unterbrach ihre Gedanken. Lucinda kam mit einem Tablett herein, das mit Kaffee und Sandwichs beladen war. „Zeit fürs Mittagessen. Sie haben nicht viel gefrühstückt, und ich nehme an, dass Sie jetzt Hunger haben. Ich habe Colton schon gefüttert und zum Schlafen in sein Bettchen gelegt.“
Cynthia nahm das Essen dankbar an. „Danke schön, Lucinda. Sie sind so gut zu mir.“
Die ältere Frau zuckte mit den Schultern. „Sie machen es mir auch sehr leicht. Und so habe ich endlich etwas zu tun. Mr. Jonathan ist ja nie zu Hause. Er empfängt keine Gäste, nichts.“
„Haben Sie schon hier gearbeitet, bevor Jonathans Vater starb?“
Lucinda setzte sich in einen der Ohrensessel und nickte. Ihre kurzen schwarzen Locken hüpften auf und ab. „Ich arbeite seit fast fünfzehn Jahren hier. Der alte Mr. Steele hat mich eingestellt. Mr. David kam in den Schulferien nach Haus, aber Mr. Jonathan war schon ausgezogen.“
Cynthia zögerte. „Jonathan hat mir erzählt, dass er kein gutes Verhältnis zu seinem Bruder hatte.“
Lucinda schnaubte verächtlich. „Mr. David war von der ganz üblen Sorte. Man soll ja nicht schlecht über Tote reden, aber wenn jemand so ein Schicksal verdient hat, dann war er es. Immer in Schwierigkeiten.
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