Julia Festival Band 86
hinterher. „Es ist mir egal. Ich habe heute Morgen wichtigere Probleme.“ Sie würde zu spät kommen, viel zu spät, und das an diesem ersten Tag ihres restlichen Lebens!
Für heute Früh hatte Susannah die erste Redaktionsbesprechung einberufen, die sie in ihrer neuen Eigenschaft als Chefredakteurin leiten würde. Leider würde es vielleicht auch ihre letzte sein, wenn dabei nicht einige ausgefallene und zugkräftige Ideen herauskommen würden, die die hohen Tiere bei „Update Publications“ zu der Ansicht veranlassen könnten, dass es sich lohnen würde, die Zeitschrift am Leben zu erhalten. Andernfalls würde „CHIC“ und damit die größte Chance ihres Lebens untergehen, und sämtliche Mitarbeiter müssten sich einen neuen Job suchen.
Susannah warf einen verzweifelten Blick auf die Uhr, während sie sich Jeans anzog. Sieben Uhr vierundzwanzig. Wenn sie es schaffte, in zehn, nein, acht Minuten aus dem Haus zu sein, bestand noch eine kleine Chance. Sie musste sich nur noch ein T-Shirt und die Turnschuhe anziehen und ihre Notizen zusammensuchen, an denen sie das ganze Wochenende gearbeitet hatte.
Tom rief vernehmlich aus der Küche. Schön, anziehen, Notizen zusammenpacken, Tom das Frühstück hinstellen und dann los.
Rasch zog sie sich ein weites T-Shirt mit Beethoven-Aufdruck an und strich sich mit den Fingern durch die feuchten kurzen schwarzen Locken. Fönen konnte sie vergessen, ebenso wie Toast oder auch nur Kaffee. Vorausgesetzt, die U-Bahnen kamen einmal pünktlich und in der Third Avenue würde es keinen Stau mehr wegen Bauarbeiten geben, vorausgesetzt, es würde einmal wirklich alles glattlaufen, dann konnte sie es noch schaffen.
Am Freitag hatte sie von ihrer Sekretärin Pam den gesamten Mitarbeiterstab bis hin zu Eddie, dem Botenjungen, für zehn vor fünf in den Besprechungsraum bestellen lassen, um alle noch einmal auf die Wichtigkeit der Redaktionsbesprechung am Montag einzuschwören. Wie sie erwartet hatte, waren die Leute recht zögerlich eingetrudelt, mit einem Becher Kaffee oder einer Dose Diät-Cola in der Hand. Zum einen ging es bei „CHIC“ in Bezug auf Kleidung und Umgangsformen sowieso sehr leger zu, zum anderen hatte sich aber auch nach dem Possenspiel um die Besetzung des Chefredakteurspostens bei einigen Mitarbeitern Resignation breitgemacht.
Sobald alle versammelt waren, hob Susannah eine Hand und bat um Ruhe. „Hört zu, Leute. So sieht es aus: Es ist nur eine Frage der Zeit, wann man sich bei ‚Update‘ entschließt, uns etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir sollten dann besser vorbereitet und in der Lage sein, sie mit Fakten, Zahlen und Konzepten für die Zukunft zu blenden, sodass sie den Eindruck bekommen, dass ‚CHIC‘ ein Adler ist, der zu neuen Höhenflügen ansetzt, und kein sterbender Schwan, den man gnädigerweise von seinem Leiden erlöst. Deshalb möchte ich, dass ihr jetzt nach Hause geht und euch überlegt, was nötig ist, um unserer Zeitschrift den nötigen Schwung fürs einundzwanzigste Jahrhundert zu verpassen. Am Montag früh treffen wir uns hier wieder mit innovativen Plänen für praktikable Projekte. Keine Seifenblasen, die undurchführbar oder zu teuer sind. Und ich erwarte, euch alle um Punkt acht hier zu sehen.“
Den aufkommenden Protest erstickte Susannah mit einer energischen Handbewegung. „Betrachtet es so, Leute: Sofern wir nicht einen erstklassigen Plan aus der Schublade zaubern können, wenn die Leute von ‚Update‘ uns inspizieren, können wir unser nächstes Treffen auf dem Arbeitsamt veranstalten.“
„Punkt acht?“, hatte Claire noch einmal nachgefragt.
„Genau“, hatte Susannah bestätigt.
Und als Chefredakteurin musste sie ihrer Mannschaft mit gutem Beispiel vorangehen! Schön. Sie atmete tief ein. Noch einmal die kurzen Haare mit den Fingern auflockern, die Strümpfe anziehen, dann die Turnschuhe, die Schnürsenkel binden …
Der Schnürsenkel des rechten Turnschuhs zerriss. Ganz ruhig bleiben. Irgendwo mussten doch Ersatzschnürsenkel sein. In den Schubladen der Kommode, im Schrank … natürlich nicht. Mit einem deftigen Fluch nahm Susannah zwei Sicherheitsnadeln, fädelte sie durch die Ösen des Turnschuhs und sicherte den Schuh damit provisorisch. Dann richtete sie sich auf und betrachtete sich im Spiegel.
Du liebe Güte! Kein Make-up, eine Frisur, die ihrem Friseur die Tränen in die Augen getrieben hätte, ein Schlabber-T-Shirt und Jeans, die auch schon bessere Tage gesehen hatten – ganz zu schweigen
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