JULIA FESTIVAL Band 97
sie ihre Zeit vertrödelte. Rasch ging sie ins Schlafzimmer und zog ihr knöchellanges cremefarbenes Baumwollkleid und flache Sandaletten an. Dann betrachtete sie resigniert das gelockte Haar, das in der Sonne getrocknet war. Vielleicht beneideten sie einige Frauen darum, dass sie viel jünger wirkte, als sie war. Aber sie fand sich gar nicht beneidenswert. Sie wünschte, ihr Haar wäre noch so lang wie vor der Reise, damit sie es hochstecken könnte.
Schließlich wusch sie die Tasse aus und verließ das Apartment. Nachdem sie die drei Treppen hinuntergeeilt war, ging sie hinaus ins Freie, in die warme Luft. Sie würde sich weder von Ashley noch von Castelli den Urlaub verderben lassen und nahm sich vor, die Galerie früher zu schließen und den Nachmittag am Strand zu verbringen.
Ashleys kleinen Wagen hatte sie wenige Meter weiter weg am Straßenrand geparkt. Sie betrachtete kurz die Häuser mit den roten und ockerfarbenen Dachziegeln und den Balkonen mit den blühenden Pflanzen. Sie standen so dicht nebeneinander, dass nichts dazwischen zu passen schien. Die Vorgärten mit dem üppigen Grün waren ein wunderschöner Anblick. Der Duft nach Lilien, Rosen und Jasmin vermischte sich mit dem feinen Aroma aus der Bäckerei an der Ecke.
Als Tess die Tür zur Galerie aufschloss, läutete schon das Telefon. Das ist sicher Ashley, dachte sie und schaltete rasch die Alarmanlage aus. „Hallo?“, meldete sie sich dann.
„Teresa?“, ertönte zu ihrer Enttäuschung Andreas Stimme. „Wo warst du? Ich habe vorhin versucht, dich in Ashleys Wohnung anzurufen.“
„Wahrscheinlich war ich schon unterwegs“, erwiderte Tess freundlich. „Hast du etwas von Ashley gehört?“
„Nein“, antwortete Andrea ungeduldig. „Du etwa?“
„Dann hätte ich dir sogleich Bescheid gesagt.“
Andrea atmete tief ein. „Das hätte ich auch getan, Teresa. Du brauchst nicht in so einem Ton mit mir zu reden. Wenn du nicht weißt, wo deine Schwester sich befindet, ist das nicht meine, sondern deine eigene Schuld.“
Tess verkniff sich die scharfe Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Es hatte keinen Sinn, sich mit Andrea zu streiten. Dass sie sich aufregte, war verständlich. Ihre Tochter war verschwunden, und sie war weit weg.
„Vor einigen Tagen habe ich noch mit ihr gesprochen“, verteidigte Tess sich.
„Das hast du mir gestern nicht erzählt.“
Tess seufzte. „Ich habe es vergessen.“
„Oder du hast es mir absichtlich verschwiegen, um mich aufzuregen.“ Andreas Stimme klang vorwurfsvoll. „Hast du sie nicht gefragt, wo sie ist?“
Nein, warum hätte ich das tun sollen, für mich war doch alles klar, ich habe ihr geglaubt, überlegte Tess. „Daran habe ich nicht gedacht“, erwiderte sie. „Aber sie wird sich bestimmt melden, sobald sie Zeit hat.“
„Die ganze Sache ist ziemlich mysteriös“, stellte Andrea fest. „Wenn dieser Kunde sie nicht unbedingt hätte sprechen wollen, hätte ich von der ganzen Sache nichts erfahren.“
Sekundenlang herrschte unbehagliches Schweigen. Während Tess noch überlegte, was sie sagen sollte, fuhr Andrea fort: „Ich habe den Eindruck, du weißt mehr, als du mir verraten willst. Ashley muss sehr verzweifelt gewesen sein, sonst hätte sie dich nie gebeten, sie zu vertreten. Aber momentan kann ich nichts anderes tun als zu warten. Falls du bis zum Wochenende nichts von ihr gehört hast, komme ich nach Italien und werde selbst Nachforschungen anstellen.“
Tess seufzte insgeheim. „Daran kann ich dich natürlich nicht hindern.“
„Stimmt. Versprich mir, mich anzurufen, wenn Ashley sich bei dir meldet.“
„Ja, das werde ich tun.“ Nachdem das Gespräch beendet war, stand Tess minutenlang da und blickte ins Leere. Sie hatte keine Lust mehr, die Galerie früher zu schließen und den Rest des Tages am Strand zu verbringen. Sie kam sich vor wie eine Angeklagte, die ihre Unschuld beweisen musste.
Das ist nicht fair, dachte sie verbittert. Es war nicht ihre Schuld, dass Ashley verschwunden war und Castellis Sohn mitgenommen hatte. Weshalb fühlte sie sich dann trotzdem schuldig?
4. KAPITEL
Den Rest des Tages verbrachte Tess damit, einige Kunden zu bedienen und sich mit einem Ehepaar aus Manchester zu unterhalten, das zum ersten Mal in Italien war. Als es endlich Zeit war, die Galerie zu schließen, war sie erleichtert. Sie fuhr nach Hause und hatte das Gefühl, der einzige Mensch in Porto San Michele zu sein, der keinen Spaß hatte.
Am nächsten Morgen hatte sich ihre Laune
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