JULIA FESTIVAL Band 97
Michele bei ihm in den Weinbergen.“
„Sie kennen ihn?“ Tess blickte ihn nachdenklich an. War der junge Mann etwa nur hereingekommen, um zu erfahren, was Castelli gewollt hatte? „Ist sein Weingut sehr groß?“
„Ja. Aber ich kenne ihn nicht persönlich.“
Tess fing an zu begreifen, warum Ashley sich für Marco interessierte. „Ashley kennt seinen Sohn, oder?“ Sie ließ die Stimme betont gleichgültig klingen.
„Sie meinen Marco? Ja, den kennt sie.“ Silvio nickte. „Er scheint sich für Kunst zu interessieren. Angeblich möchte er Maler werden.“
Vielleicht erklärt das, warum Ashley sich um den Jungen kümmert, überlegte Tess. „Ah ja. Ist sein Vater damit einverstanden?“
„Vermutlich nicht. Ein di Castelli verschwendet seine Zeit nicht mit Malen. Außerdem geht Marco noch zur Schule. Sie haben mir immer noch nicht verraten, was Marcos Vater bei Ihnen wollte“, erinnerte Silvio sie.
„Oh.“ Tess suchte nach einer Ausrede. „Er … wollte mit Ashley sprechen, hat aber nicht gesagt, warum.“
„Hm.“ Silvio war offenbar nicht überzeugt.
„Ich will jetzt abschließen“, verkündete Tess. „Ich muss noch im Supermarkt für heute Abend einkaufen.“
„Sie können ja mit mir essen gehen“, schlug er vor. „Meine Lieblingstrattoria ist gleich da vorne um die Ecke.“
„Nein, lieber nicht …“
„Wollen Sie mir einen Korb geben?“ Er verzog das Gesicht.
„Es gibt bestimmt genug andere Frauen, die gern mit Ihnen ausgehen würden, Silvio“, entgegnete Tess energisch. „Es tut mir leid, es war ein langer Tag, und ich bin müde. Ich wäre heute sowieso keine gute Gesellschafterin.“
„Ashley hat behauptet, Sie würden gern mit mir ausgehen“, wandte er ein. „Sie hat erzählt, Sie seien nicht … gebunden.“
„So? Dann hat sie sich getäuscht, Silvio. Ich habe einen Freund.“ Sogar mehrere Freunde – und alles ist ganz harmlos, fügte sie insgeheim hinzu. Dass sie keine feste Beziehung hatte, ging Silvio nichts an.
Er zuckte die Schultern. „Aber er ist nicht hier, oder?“
Tess seufzte. „Trotzdem …“
„Dann vielleicht an einem anderen Abend“, erklärte er unbekümmert und ging hinaus. „Bis morgen, meine Liebe.“
„Bis morgen. Und gute Nacht.“ Tess schloss die Tür ab und atmete erleichtert auf. Was für ein Tag, zuerst Castelli, dann Silvio, dachte sie. Sie freute sich darauf, den Abend allein in Ashleys Apartment verbringen zu können.
In der Nacht wälzte sie sich ruhelos im Bett hin und her. Immer wieder glaubte sie, ein Telefon läuten zu hören. Es waren jedoch nur die Glöckchen draußen auf dem Balkon. Kurz vor Tagesanbruch schlief sie ein und wurde erst wieder wach, als es hell war und die Sonnenstrahlen durch die Ritzen in den Jalousien auf ihr Gesicht fielen.
Sie stand auf und stellte die Kaffeemaschine an, ehe sie in dem winzigen Badezimmer duschte. Wenig später schlang sie sich ein Badetuch um den Körper.
Nachdem sie sich einen Kaffee eingeschenkt hatte, stellte sie sich auf den kleinen Balkon. Die Welt wirkte an diesem Morgen weniger feindselig als am Tag zuvor. Was für ein lächerlicher Gedanke, schalt sie sich sogleich. Die Welt konnte nicht feindselig wirken, sondern nur die Menschen.
Das Apartment befand sich im obersten Stock eines alten Hauses in der Via San Giovanni. Es lag am Hügel oberhalb des Hafens. Das Haus war eher unauffällig, die Flure und Treppen waren sauber, und es roch nicht nach Zwiebeln oder Knoblauch wie in vielen anderen alten Gebäuden.
Die Wohnung bestand aus einem Schlafzimmer, Wohnzimmer mit eingebauter Küchenzeile und einem kleinen Bad. Die Einrichtung war eher spartanisch, aber es war alles da, was man brauchte. Ashley hatte sich einige Brücken, Läufer und hübsche Vorhänge gekauft.
Tess lehnte sich über die Balkonbrüstung. Am Abend zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, betrogen worden zu sein. Aber es hatte sich für sie ja nichts dadurch geändert, dass Ashley sie und alle anderen belogen hatte. Sie vertrat ihre Schwester immer noch in der Galerie, und es lag nur an ihr selbst, wie sich ihr Aufenthalt in dieser wunderschönen Umgebung gestaltete.
Dass sie sich fragte, wo Ashley sein mochte, war ganz normal. Ashley hatte schon immer nach ihren eigenen Regeln gelebt. Tess erinnerte sich daran, dass ihr Vater sich bei einem seiner unregelmäßigen Besuche in Derbyshire über die Lebensweise seiner jüngeren Tochter beschwert hatte.
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass die Tasse leer war und
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