JULIA FESTIVAL EXTRA Band 06
lächelnd an den Tisch, um die Liste zu überfliegen.
„Wir sollten Ihnen für den Einkauf auch eine Transportmöglichkeit verschaffen“, überlegte sie danach laut. „Ich nehme an, Sie können fahren?“
Das konnte er. Er hatte sogar einen gültigen Führerschein, aber der lautete natürlich nicht auf den Namen, den er ihr genannt hatte. Und versichert war er auch nicht.
„Ich …“
„Mein Wagen ist auch versichert, wenn ein anderer ihn fährt. Er hat eine Heckklappe und ist groß genug, zumindest für die kleineren Teile. Sie können ihn benutzen.“
Hatte sie erraten, dass er sie angelogen hatte? Nein, wie sollte sie? Es war einfach nur sein schlechtes Gewissen, das ihn glauben ließ, dass Honor seinem Blick auswich.
„Ich …“, begann er erneut und verstummte, als es in der Ferne donnerte.
„Ich bekomme langsam Hunger“, erklärte Honor, als das dumpfe Grollen verklungen war. „Und wenn wir gegessen haben, muss ich mir ein paar Dinge aufschreiben. Ach ja, auf dem Rückweg bin ich bei Freddy vorbeigefahren. Wir bekommen von seinem Gutsverwalter Holz und Mauersteine. Er ist ein netter Kerl, ein Australier, und er hat erst vor Kurzem bei Freddy angefangen.“
Erst jetzt merkte David, dass er unwillkürlich den Atem angehalten hatte. Aber wenn der Verwalter Australier und noch nicht lange in der Gegend war, würde er ihn wohl kaum erkennen.
Während Honor sprach, stieß sie unabsichtlich ein Kräuterbuch vom Tisch, in dem sie gelesen hatte. David bückte sich danach, und auf der aufgeschlagenen Seite stand die Beschreibung einer Pflanze. Sie war auf Latein, und automatisch übersetzte er sie.
„Sie können Latein?“, fragte Honor überrascht.
„Ein wenig. Wir … ich … hatte es in der Schule“,stammelte David.
Honor runzelte die Stirn. Ein umherziehender Gelegenheitsarbeiter, der Latein konnte, war ziemlich ungewöhnlich. Und dass er Lateinunterricht gehabt hatte, bedeutete, dass er keine staatliche Schule, sondern eine Privatschule besucht haben musste.
„Die meisten Leute halten es für eine sehr trockene und langweilige Sprache, die höchstens noch Juristen interessiert, aber …“
„Warum sagen Sie das?“, unterbrach David sie so scharf, dass sie zusammenzuckte. Hastig versuchte er wieder einzulenken. „Ich dachte immer, es ist die Sprache der Kirche.“
„Ja, da könnten Sie recht haben.“
Warum hatte er so heftig reagiert, als sie die Juristen erwähnt hatte? Er hatte sich als Dieb bezeichnet. Wenn er das wirklich war, hatte er allen Grund, die Justiz zu fürchten.
„Es ist schon nach elf. Ich gehe jetzt zu Bett. Darf ich Ihnen das Aufräumen hier überlassen?“, fragte Honor, als sie die Küche betrat.
David hatte den Abend damit verbracht, eine detaillierte Aufstellung aller notwendigen Arbeiten zu machen, damit Honor die Reihenfolge festlegen konnte.
„Natürlich. Ich werde morgen früh herumtelefonieren, um die Sachen, die wir für das Dach brauchen, möglichst billig zu bekommen. Je früher das Leck abgedichtet ist und die Ziegel ausgewechselt sind, desto besser.“
Lächelnd ging Honor an ihm vorbei zur Tür, und er sah ihr nach. Im Laufe des Abends hatte er sie mehrmals unauffällig betrachtet. Sie war so in ihre Notizen vertieft gewesen, dass sie es nicht bemerkt hatte.
Selbst im hellen Licht der Küche war ihre Haut so frisch und glatt wie die eines jungen Mädchens, aber in ihrem Gesicht spiegelte sich eine Reife, eine Wärme, die nur eine erwachsene Frau ausstrahlen konnte. Sie war natürlicher und lockerer als alle Menschen, denen er je begegnet war. An ihr war nichts Aufgesetztes oder Künstliches, und irgendwie erinnerte sie ihn an seinen Freund, den Priester. Lag das daran, dass sie wie Pater Ignatius die Fähigkeit besaß, die äußere Hülle eines Menschen zu durchdringen und in sein Innerstes zu blicken? Seine Seele zu erkennen und ihn trotzdem nicht zu verurteilen? Ihn nicht zu verurteilen?
„Du bist heute Abend so rastlos“, sagte Jenny Crighton zu ihrem Mann Jon, als er im Wohnzimmer auf und ab ging. „Es ist nach elf. Ich gehe schlafen. Du auch?“
„Geh nur. Ich komme nach“, erwiderte Jon. „Ich bin irgendwie unruhig. Ich weiß nicht, warum“, gestand er.
„Vermutlich weil die Jungs noch nicht zurück sind.“
„Es war nett von Guy, ihnen Ferienjobs auf Lord Astleghs Gut zu verschaffen.“
„Ja, allerdings“, stimmte Jenny ihm zu und lächelte ihm noch einmal liebevoll zu, bevor sie nach oben ging.
Jon ging ans Fenster.
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