JULIA GOLD Band 32
an eine Wand im Schlafzimmer gelehnt, den Blick durch das große Fenster auf den entfernten Horizont gerichtet.
Amin war ein schlechter Mensch, ein wirklich böser Mensch, aber nicht einmal er könnte Ben etwas antun, oder?
Sie versuchte, sich vorzustellen, wo er Ben hingebracht haben könnte, fragte sich, ob es dort sehr dunkel war und Ben Angst hatte. Doch schnell verdrängte sie diese grausigen Gedanken. Sie musste positiv denken, musste fest daran glauben, dass es Ben gut ging und dass Amin ihn freundlich behandelte.
Etwas gefasster beobachtete Bryn den Weg des Mondes am Himmel. Die Sterne wurden heller, strahlender und erloschen, als die Nacht sich dem Ende zuneigte und die Sonne langsam im Osten aufging.
Noch immer saß sie da, an die Wand gelehnt, die Knie angezogen, die Arme drum herumgeschlungen.
Die Dienerin erschien wieder, eingehüllt in duftige Schleier. Sie wirkte müde, als hätte auch sie nicht geschlafen. „Frühstück, Prinzessin“, sagte sie und brachte ein Tablett mit süßen Brötchen, frischen Früchten und heißem Pfefferminztee.
„Ich kann nichts essen. Nicht, solange Ben nicht wieder zu Hause ist.“
„Der Scheich wird ihn zurückbringen. Der Scheich ist allmächtig.“
Allmächtig. Wenn das nur stimmen würde! Bryn nippte an ihrem Tee, rührte das Essen jedoch nicht an, sondern starrte nur die frische, saftige, in Spalten geschnittene Mango an. Was würde Ben frühstücken? Sie betete, dass Amin ihm etwas zu essen gab. Wenn Ben überhaupt noch lebte. Nein! Daran durfte sie nicht denken. Natürlich lebte er. Amin war zwar grausam und egoistisch, aber er würde einem Kind nicht wehtun.
Tränen traten ihr in die Augen. Sie biss sich auf die Lippen, entschlossen, nicht zu weinen. Tränen würden Ben nicht helfen.
Lalia kam. Auch ihr Gesicht war von der langen Nacht gezeichnet. „Herrin, Scheich al-Assad wartet im Hauptempfangssaal auf Sie. Bitte, ich ziehe Sie schnell an.“
Lalia half Bryn in ein schlichtes apricotfarbenes Kleid hinein. „Sie müssen tapfer sein, Prinzessin“, sagte sie, kämmte Bryns Haare und band sie mit einer apricotfarbenen Schleife zusammen.
„Ich bin tapfer“, erwiderte Bryn finster. Sie wollte nur noch zu Kahlil und die neuesten Nachrichten hören. Er musste Ben einfach gefunden haben!
Rifaat wartete am Eingang zu den Frauengemächern auf sie. „Guten Morgen, Prinzessin al-Assad.“
Bryn hatte sich so an sein Schweigen gewöhnt, dass sein Gruß sie verwirrte. „Guten Morgen, Rifaat.“
„Sie sehen sehr müde aus. Haben Sie nicht gut geschlafen?“
Wie hätte sie schlafen sollen? Wie konnte überhaupt irgendjemand schlafen, wenn ein dreijähriger Junge vermisst wurde? „Hat der Scheich etwas in Erfahrung bringen können?“
„Ich weiß es nicht.“
Ungeduldig sah sie ihn an. „Hören Sie auf damit, Rifaat. Sie wissen über alles Bescheid, was in diesem Palast passiert. Sie sind Kahlils Vertrauter. Sie kennen den Klatsch der Dienerschaft. Sie hören vieles, noch bevor Kahlil davon erfährt.“
Rifaat lächelte fast, doch der Ausdruck in seinen Augen blieb traurig. „Das kann ein Segen, aber auch ein Fluch sein, Prinzessin. Manchmal ist es besser, man weiß nicht Bescheid.“ Er verbeugte sich leicht und führte sie dann durch die Marmorhalle zum Empfangszimmer.
Bryn sah Kahlil am anderen Ende des Saales. Er stand am geöffneten Fenster und ließ den Blick über seine Privatterrasse schweifen. Es war immer noch früh am Morgen, der Himmel hatte sich rötlich gefärbt.
Kahlil war allein im Raum. Langsam drehte er sich um und trat zu einem massiven Sessel mit burgunderroten Kissen. Im Zeitlupentempo setzte er sich.
Er mied ihren Blick. Er sah nicht einmal in ihre Richtung. Ein schlechtes Zeichen.
Bryn drehte sich der Magen um. Irgendetwas Schreckliches musste mit Ben geschehen sein.
11. KAPITEL
„Erzähl mir, was geschehen ist“, flüsterte Bryn.
„Komm näher.“
Sie war wie erstarrt, fürchtete sich vor dem, was er ihr sagen würde. „Erst sag mir, was geschehen ist. Ich muss es wissen.“
Er hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. „Ich habe nichts von Ben gehört. Das hat mir dir zu tun.“
Sie trat vor. Einen Schritt und noch einen Schritt. Adrenalin schoss durch ihren Körper, doch die Anspannung und die Erschöpfung ließen sie nicht mehr klar denken. „Mit mir?“
„Ja, meine pflichtgetreue Frau, mit dir.“
„Was ist los?“
„Oh, ich habe einiges erfahren und auch ein wenig gelesen.“
„Ich verstehe
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